Der diesjährige Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ging an Prof. Dr. Wolfgang Reitzle, Chairman of the Board of Directors, Linde plc. Bei der Preisverleihung am 24. Juni 2021 in Berlin sprach Friedrich Merz, Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung, die Laudatio auf den Preisträger.


ES GILT DAS GESPROCHENE WORT.
Eine Video-Aufzeichnung der Rede von Friedrich Merz finden Sie hier
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Es ist mir eine Ehre und Freude zugleich, am heutigen Tag die Laudatio auf Professor Dr. Wolfgang Reitzle, den diesjährigen Träger des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik der Ludwig-Erhard-Stiftung, halten zu dürfen.

Die Ludwig-Erhard-Stiftung hat in ihrer Pressemitteilung über die Wahl des diesjährigen Preisträgers Anfang Mai ebenso wie der Vorsitzende Roland Koch heute zu unserem Preisträger des Jahres 2021 schon einiges gesagt. „Reitzle nimmt kein Blatt vor den Mund“ – so war schon mit der Bekanntgabe seines Namens als Preisträger zu lesen. Und in der Tat, Wolfgang Reitzle ist ein streitbarer Mann. „Streitbar“ im besten Sinne des Wortes, vor allem dann, wenn es um aus seiner Sicht notwendige, bisweilen auch harte und zunächst unpopuläre Entscheidungen geht.

Man darf es wohl so sagen: Wolfgang Reitzle ist in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung unter den deutschen Managern. Das zeigt sich bereits nach seinem Abitur: Er studiert an der TU in München Maschinenbau und Wirtschaftswissenschaften und macht bereits im Alter von 22 Jahren seinen ersten Abschluss als Diplom-Ingenieur, kurz darauf folgt der Wirtschaftsingenieur.

Der berufliche Weg wird zunächst geprägt von der Automobilwirtschaft, vor allem vom Unternehmen BMW. Bei BMW macht Wolfgang Reitzle eine rasante Karriere, die aber kurz vor dem höchsten Thron, dem Vorstandsvorsitz, und wenige Tage vor seinem 50. Geburtstag ein abruptes Ende nimmt. Er hat am Morgen eine kurze Rede als neuer Vorstandsvorsitzender der BMW AG schon im Gepäck, am Abend verlässt er das Unternehmen für immer.  „Das tut richtig weh“ – so sagt er es und so lautet auch die Überschrift über einem Interview, das Wolfgang Reitzle einige Wochen nach der in den Medien und nicht nur dort als „chaotisch“ bezeichneten, entscheidenden Aufsichtsratssitzung dem SPIEGEL gab. Im Unternehmen BMW war ein Konflikt um Rover in Großbritannien eskaliert, eine Übernahme, die BMW erhebliche Verluste beschert hatte.

Im besagten Interview gibt es einen Schlüsselsatz, der geradezu im Schumpeter’schen Maß Rückschlüsse auf den Führungsstil von Wolfgang Reitzle zulässt: „Da ist es besser,“ so sagt er, „konsequent heranzugehen, als die Schwierigkeiten immer wieder zuzudecken. Das ist wie bei einer schweren Krankheit. Notfalls muss man auch eine Operation oder gar Amputation durchführen, um das Leben zu retten.“

The „Car Guy“, wie er in der Industrie genannt wird, gibt noch ein kurzes Intermezzo bei Ford, bevor er dann im Jahr 2002 zur Linde AG nach Wiesbaden wechselt. Damit ist er immerhin CEO eines DAX-30 Unternehmens. Aber Linde? Dieses Unternehmen gilt zum damaligen Zeitpunkt als ein eher langweiliges und wenig prestigeträchtiges Konglomerat aus Gabelstapelhersteller und Industriegase-Geschäft und das alles im eher beschaulichen Wiesbaden.

Es würde den Rahmen dieser Laudatio sprengen, die ganze Geschichte in allen Details zu erzählen. Aber eine Sitzverlegung von Wiesbaden nach München, eine Trennung vom Gabelstaplergeschäft, eine spektakuläre Übernahme des größeren Wettbewerbers BOC in Großbritannien und eine Fusion mit der amerikanischen Praxair später ist aus dieser ehemaligen etwas angestaubten Linde AG der Weltmarktführer im Bereich von Industriegasen und Prozessanlagen geworden, größer noch als der französische Konkurrent Air Liquide. Eine Industriegeschichte, die in jüngerer Zeit in Deutschland ihresgleichen sucht und die ohne die strategische Weitsicht und ohne die notwendige Härte von Wolfgang Reitzle sowohl bei der BOC-Übernahme wie bei der Fusion mit Praxair nicht zustande gekommen wäre.

In den zwölf Jahren seiner Amtszeit verdoppelt er den Umsatz, verdreifacht den Gewinn und verzehnfacht den Börsenwert. Und er bewahrt Linde durch großes Geschick vor einer Zerschlagung durch Finanzinvestoren, die die strategischen Chancen dieses Unternehmens eben auch schon erkannt hatten. Ohne Wolfgang Reitzle gäbe es dieses Unternehmen mit ziemlicher Sicherheit heute so nicht mehr. Als Chairman of the Board of Directors hat er dagegen bis heute maßgeblichen Einfluss auf dieses nun transatlantische Unternehmen, in dem auch die Arbeitnehmer keinen Grund zur Klage haben: Schon ohne die Fusion mit Praxair ist die Zahl der Beschäftigten allein bei der „alten“ Linde von gut 40.000 auf knapp 60.000 angestiegen.

Das Verhältnis von Wolfgang Reitzle zu den Arbeitnehmern ist trotzdem so eine Sache. Bei BMW waren es u. a. die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat, die seine Berufung zum CEO maßgeblich verhinderten. Bei Praxair waren ein zweiter Anlauf und das Zweitstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden Wolfgang Reitzle auf der deutschen Seite notwendig. „Ein Mann auf Kollisionskurs“ titelte die Süddeutsche Zeitung. Aber das zeichnet ihn eben auch aus: Er zieht sein Ding durch, wenn er von einer Sache, die er vorher gründlich analysiert hat, überzeugt ist. Wenn notwendig, auch gegen den Rat und die Bitten aus der deutschen, vor allem aus der bayerischen Politik.

Über seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen und über die Zukunft der globalen Wirtschaft hat Wolfgang Reitzle in einem Buch mit dem provokanten Titel „Luxus schafft Wohlstand“ geschrieben. „Luxus“, das ist für ihn vor allem technische Perfektion auf höchstem ästhetischen Niveau  – mit einer entsprechenden Ausstrahlung etwa in der Automobilindustrie auf die Serienfertigung auch kleinerer Modelle. Und gerade in dieser bisherigen Paradedisziplin der deutschen Wirtschaft lässt sich genau diese Beobachtung auch am besten machen. Die große Zahl der gut bezahlten Beschäftigten und zugleich der Luxus, der Komfort und die technische Brillanz, die heute ganz überwiegend auch in den Kleinwagen unserer Automobilindustrie anzutreffen sind, bestätigen doch genau diese Beobachtung. Und der Titel des Buches wie sein Inhalt und auch viele nachfolgende Reden und Beiträge atmen den Geist eines Mannes, der von der freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung und ihren Fähigkeiten zur Innovation, zur Steigerung der Produktivität, zur Gewährleistung des Wohlstands eines Landes zutiefst überzeugt ist.

Wolfgang Reitzle bleibt trotzdem zurückhaltend mit öffentlichen Auftritten. Er will schon unter Kontrolle behalten, was über ihn gesendet und geschrieben wird. Das gelingt ihm auch weitgehend, und trotzdem ist es kein Geheimnis, dass er nicht nur optimistisch ist im Hinblick auf die Zukunft unseres Landes und vor allem unserer Wirtschaft. Er hält unser Land für weit unter Wert regiert, eine Einschätzung, die in diesem Raum vermutlich nicht nur Widerspruch auslöst. Er weiß und akzeptiert zugleich, dass Politik anderen Gesetzmäßigkeiten folgen muss als die Führung eines Konzerns. Und trotzdem meint er, dass sich auch unter solchen politischen Zwängen manches besser, effektiver, schneller machen ließe. In dieser Annahme werden ihm wohl alle, die heute zu seinen Ehren zusammengekommen sind, folgen.

Im letzten Jahr ist Wolfgang Reitzle 70 Jahre alt geworden. Ein wenig hat sich sein Leben schon geändert, vor allem, seitdem er aus den exekutiven Funktionen der verschiedenen Unternehmen ausgeschieden ist. Er denkt trotzdem nicht daran, aufzuhören zu arbeiten. „Wer nicht mehr arbeitet, wird alt“ pflegt er zu sagen, und nicht nur mit Aufsichtsratsmandaten, sondern vor allem durch sein Engagement bei einigen Start-up-Unternehmen hält er sich jung im Kopf. Und mit der gleichen Perfektion wie vorher in den Unternehmen baut er jetzt in der Toskana Wein an und erzeugt Olivenöl. Beides, der Wein und das Olivenöl, zählen heute – wie sollte das bei Wolfgang Reitzle auch anders sein! – zu den Spitzenprodukten der Toskana.

Last but not least: Wer im Golfsport ein kleines einstelliges Handicap führt, muss auch körperlich fit sein. Reinhold Messner hat es nach mehreren Bergtouren mit ihm auf den Punkt gebracht: „Immer picobello, immer schnell, immer elegant.“

Lieber Wolfgang, die Ludwig-Erhard-Stiftung zeichnet Dich heute mit ihrer höchsten Ehrung aus, die sie zu vergeben hat, und die vom Namensgeber selbst initiiert wurde. Die Stiftung tritt seit der Übernahme des Vorsitzes durch Roland Koch wieder vermehrt heraus an die Öffentlichkeit und räumt der Sozialen Marktwirtschaft auch dadurch wieder mehr politisches Gewicht ein. Ein besseres Verständnis der Regeln unserer marktwirtschaftlichen Ordnung und der Gedankenwelt unseres ersten Bundeswirtschaftsministers tun unserem Land auch bitter not, wenn denn schon die Vorsitzende der grünen Partei, die sich sogar zur Kanzlerkandidatin hat ausrufen lassen, weder die Autorenschaft für dieses einmalig erfolgreiche Wirtschaftsmodell noch den Zeitpunkt seiner Einführung richtig einzuordnen weiß. Bezeichnend für die publizistische Lage scheint mir auch zu sein, dass sich die Jury in diesem Jahr nicht in der Lage sah, den Förderpreis für Wirtschaftspublizistik zu vergeben, da sie in keinem der vorgelegten Beiträge den Anspruch erkennen konnte, zur Erhaltung und Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft beizutragen. Dies ist ein Defizit, über das wir in der Stiftung noch einmal gesondert diskutieren müssen.

Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir gleichwohl schon heute eine über den Anlass der heutigen Preisverleihung hinausgehende Schlussbemerkung: Nicht erst seit Corona erleben wir in Deutschland, in Europa und in vielen Ländern der Welt eine rasante Zunahme des Glaubens daran, dass „der Staat“ die meisten Dinge doch sehr viel besser regeln könne als der Markt. Das ebenso alte wie falsch verstandene Wort von der Not, die angeblich kein Gebot mehr kennt, scheint den Regierungen in den letzten 15 Monaten häufiger die Hand geführt zu haben als die Überzeugung, dass gerade in Situationen des Mangels das freie Spiel der Kräfte von Angebot und Nachfrage sehr viel schneller und vor allem sehr viel preiswerter zur notwendigen Versorgung der Bevölkerung mit den notwendigsten Dingen des Lebens führt als jede staatliche Bewirtschaftung. Ludwig Erhard hat die Richtigkeit dieser Annahme mit der Abschaffung der staatlichen Bewirtschaftung und dem Inkrafttreten des sog. „Leitsätzegesetzes“ – übrigens heute und morgen auf den Tag genau vor 73 Jahren – eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Und ich vermute, er hätte im letzten und in diesem Jahr einige Vorschläge unterbreitet, wie wir Masken, Coronatests und Impfungen besser hätten organisieren können, weniger von Staats wegen, und sehr viel besser privatwirtschaftlich.

Wolfgang Reitzle hat in seinem beruflichen Leben gezeigt, was in einer freien, natürlich an Regeln gebundenen, aber zuallererst die Eigentümer zum Handeln berechtigenden und verpflichtenden Wirtschaftsordnung auf der Unternehmensseite möglich ist. Er kann auf ein beeindruckendes Berufsleben zurückblicken, er hat in Deutschland und weit darüber hinaus etwas bewegt. Er hat gezeigt, wie Führung in einer freiheitlichen Gesellschaft und in der westlichen Welt geht, denn dort hat er sich in seinem beruflichen Leben ganz überwiegend aufgehalten: in Deutschland, in London, in Paris und immer wieder und bis heute in den USA.

Und er hat seine Erfahrungen umfangreich geteilt, insbesondere in Aufsichtsratsmandaten, die jeweils für sich genommen besondere Herausforderungen darstellten, ich denke dabei insbesondere an Conti, an die WELT, an die Zementindustrie mit der Fusion von Lafarge und Holcim. Wolfgang Reitzle ist ein Mann für schwierige Fälle. Sein Rat und vor allem seine strategische Analysefähigkeit werden gerade in Zeiten der Globalisierung und der rasanten technologischen Entwicklung zu Recht von vielen Unternehmen und Unternehmerpersönlichkeiten geschätzt und in Anspruch genommen.

Unser Staat und unsere Gesellschaft müssen in den nächsten Jahren ebenfalls zeigen, dass wir unter globalen Vorzeichen, im Zeitalter einer Pandemie, die sicher noch nicht vorüber ist, und ganz besonders angesichts der ökologischen Herausforderungen, die wir unbedingt bestehen müssen, mit den Kräften des  Marktes, die nichts anderes sind als die täglich neu justierten und aufeinander abgestellten Wünsche und Ideen von Millionen von Menschen, und die damit alles andere sind als „kalt“ und „unpersönlich“, dass wir mit dieser marktwirtschaftlichen Ordnung auch die großen Aufgaben unserer Zeit lösen können. Ja nicht nur irgendwie lösen. Dass diese marktwirtschaftliche Ordnung jeder anderen Wirtschaftsordnung auch in Zukunft weit überlegen ist. Das geht nur mit einer starken politischen Führung. Das geht aber auch nur mit überzeugenden Persönlichkeiten in der Wirtschaft. Eine solche Persönlichkeit ist Wolfgang Reitzle.

Lieber Wolfgang, wir alle gratulieren Dir von Herzen zur Auszeichnung mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik im Jahr 2021.


Die digital übertragene Preisverleihung fand am 24. Juni 2021 in der Hessischen Landesvertretung in Berlin statt. Hier geht es zur Dokumentation der Preisverleihung mit Fotos, Videos und Redebeiträgen.

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