Anlässlich der Verleihung des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik 2019 erinnerte Roland Tichy, Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung, in seiner Begrüßung an die „Erhard-Sekunde“ von 1948 und mahnte, sie nicht verglimmen zu lassen.


Eine Video-Aufzeichnung der Rede von Roland Tichy finden Sie hier.


Lassen Sie uns über die Erhard-Sekunde nachdenken. Die Erhard-Sekunde nenne ich jene kurze Zeitspanne, genauer gesagt zwei Tage im Jahr 1948 – der 20. und der 21. Juni –, an denen die Währungsreform durchgeführt wurde; auf Initiative und Druck der Besatzungsmacht. Ludwig Erhard hat diese Sekunde genutzt und die Währungsreform – und das ist sein größtes Verdienst – mit der Preisfreigabe verknüpft. Er hat damit die Marktwirtschaft in Deutschland eingeführt.

Das war politisch gesehen ziemlicher Wahnsinn, selbstmörderisch, politisch unkorrekt, rechtsabweichend – oder wie auch immer man das bezeichnen mag. Erhard selbst bezeichnete es als „Mut und Verantwortungsfreudigkeit“.

Die Gewerkschaften streikten gegen die Preisfreigabe, die CDU war sich in der Ablehnung mit der SPD einig – und auch die Industrie war dagegen: Es gibt ja für die Wirtschaft nichts Schöneres als feste und damit garantierte Preise und Mengen. Ohne Wettbewerb lebt es sich locker und leicht.

Das alles kennen und wissen Sie, es langweilt. Sie sind ein höfliches Publikum und gähnen deshalb nicht. Danke dafür.

Bedrohte Marktwirtschaft

Die eigentliche Frage nach dieser Vorrede ist: Wie konnte es gelingen, diese Erhard-Sekunde, dieses entschlossene Ergreifen einer einmaligen Gelegenheit, zu dehnen? Die Entscheidungssekunde zu Wochen, Monaten und Jahren zu dehnen? Denn Marktwirtschaft ist kein Zustand, der, wenn er einmal erreicht ist, einfach so bleibt. Marktwirtschaft muss erkämpft, und sie muss verteidigt werden. Marktwirtschaft ist deshalb kein Thema für Sonntagsreden, sondern für den Marktplatz, die Zeitungsspalte, das Flugblatt, den Blog, und den Tweet.

Was man für selbstverständlich nimmt, verschwindet. Dieses Schicksal droht derzeit der Marktwirtschaft. Erhard-Bilder werden in Sälen aufgehängt, Erhard-Büsten aufgestellt, und Erhard wird beschworen. – Folgenlos. Es sind Schwüre wie jener Taubendreck, von dem Karl Kraus sagte, dass er jedes Reitstandbild in seiner Bedeutung umkehrt.

In Berlin werden Mieten nicht nur gedeckelt, sondern staatlich festgelegt und eingefroren. Schon jetzt meldet das Baugewerbe einen Beschäftigungseinbruch. Dringend benötigte Wohnungen werden nicht mehr gebaut, sondern die dem Verfall preisgegebenen werden nur noch verwaltet. Ich bin andererseits dem Senat von Berlin dankbar für diese Politik. Sie zeigt, was bei solcher infantilen Rechthaberei passiert. Berlins Wohnungsmarkt ist wieder ein Sozialismuslabor, seine segensreichen Wirkungen sind schon mit dem Tag Eins spürbar. Gratulation, so schnell geht das.

Zeitgemäße Industriepolitik?

Aber es ist nicht nur der Senat von Berlin, der mit allen Mitteln den Wohlstand für alle beseitigen will. Nein. Die Große Koalition hat den Energiesektor verstaatlicht. Mit dem Ergebnis: Die Preise steigen fast täglich, die Umweltbelastung nimmt zu, der CO2-Ausstoß steigt, und die Versorgungssicherheit nimmt ab.

Strom entsteht nicht aus der heißen Luft des Bundeswirtschaftsministeriums: Heute schon werden Elektroautos subventioniert, Batterien sollen in halbstaatlichen Betrieben montiert und die Ladeinfrastruktur staatlich subventioniert werden. Wir erleben, wie die Automobilindustrie vom Arbeitsplatzmotor und Steuerzahlerantrieb zum Subventionsempfänger umgebaut wird.

Ein weiteres Beispiel: Mit seiner „Industriestrategie 2030“ will der Bundeswirtschaftsminister nationale und europäische Champions schaffen. Zur Sozialen Marktwirtschaft gehört für ihn eine „zeitgemäße Industriepolitik“, mit der der Staat Schlüsseltechnologien gezielt stärken solle. Bertolt Brechts Frage „Wer baute das siebentorige Theben?“ könnte man umformulieren in: „Wer zahlt die Steuern für Eure Narreteien?“

Vom freien zum unmündigen Bürger

Es wird aber nicht nur teuer für den Bürger. Seine Freiheit wird immer weiter eingeschränkt, Verantwortung wird ihm abgenommen, er wird vom Staat entmündigt. Kurioserweise passiert das alles scheinbar ohne Gegenwehr – manch einer fordert es sogar von den Politikern: Verbietet uns das Autofahren, das Fliegen, das Fleischessen! So hört man es bisweilen auch von Kommentatoren in öffentlich-rechtlichen und anderen Medien.

Das Leitbild des freien und mündigen Bürgers wird so völlig umgekehrt: Statt Freiheit und Verantwortung – den Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft – wollen viele Gleichheit und Fürsorge, natürlich vom Staat garantiert. Sie wollen von der Bürde der Freiheit entlastet werden. Doch Unmündigkeit ist der Geisteszustand, gegen den jede Aufklärung kämpft.

Die momentan herrschende Staatsgläubigkeit, der Glaube daran, der Staat könnte es besser richten als Unternehmer, ist ein Irrglaube. Unternehmer im Wettbewerb sind innovativ, um die Bedürfnisse der vielen Verbraucher zu erkennen und zu befriedigen. Der Staat oder irgendeine Planungskommission kann nicht das Wissen haben, das Millionen von Akteuren am Markt haben.

Marktwirtschaft – in Erhards Worten „diejenige Wirtschaftsordnung, die ein Maximum an Produktivität, Wohlstandsmehrung und persönlicher Freiheit verbindet“ – muss verteidigt werden: in den Medien, von Unternehmern, von Politikern und Wissenschaftlern. Es darf nicht sein, dass an Universitäten – das sind die Orte der gelebten Wissenschafts- und Meinungsfreiheit ! – Professoren und Politiker daran gehindert werden, über Marktwirtschaft zu reden. So, wie mit Bernd Lucke und Christian Lindner an der Universität Hamburg geschehen. Und sie sind nicht die einzigen, auch Jörg Baberowski erlebt das an der Universität Berlin.

Für Marktwirtschaft kämpfen!

Ludwig Erhard konnte seine Sekunde dehnen, auch mithilfe von Medien und Unternehmern. Viele Unternehmen haben mit Anzeigen und Aufklärungskampagnen die Marktwirtschaft verteidigt, weil die dadurch ausgelösten Freiheiten und Chancen mehr Wert waren als kurzfristige Monopolgewinne. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat damals eine herausragende Rolle übernommen, indem sie seine Ideen zu den ihren machte.

Union und FDP, nach dem Godesberg Parteitag zähneknirschend auch die SPD, bekannten sich zur Marktwirtschaft. – Gerhard Schröder haben wir 2016 für die vorerst letzten marktwirtschaftlichen Reformen, der „Agenda 2010“, mit dem Ludwig-Erhard-Preis ausgezeichnet.

Ich freue mich über die Entscheidung der Jury für den heutigen Preisträger, ohne der Begründung vorzugreifen, obwohl ich mich natürlich arg zügeln muss mit der Bewertung. Denn damit die Erhard-Sekunde nicht einfach verglimmt – müssen wir dafür kämpfen, werben, schreiben. Sonst vergeht die Sekunde und wird verschüttet vom bröckelnden Putz und herunter kommenden Mauerwerk des Sozialismus.

Link zur Dokumentation der Preisverleihung mit Fotos, Videos und Redebeiträgen.

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