Europa habe immer wieder bewiesen, dass es in der Lage ist, weltweit Standards zu definieren und durchzusetzen, meint Nicolaus Heinen und fragt: Warum nicht auch im wichtigen Bereich nachhaltiger Investments?

Anlageziele, die nicht allein die klassischen Kriterien einer Investition wie Rendite, Sicherheit oder Verfügbarkeit, sondern auch die der Nachhaltigkeit zu erfüllen suchen, scheinen zur aktuellen Lage nicht zu passen. Doch dieser Eindruck trügt. Auch wenn das Thema Nachhaltigkeit in der medialen Berichterstattung zuletzt in den Hintergrund gerückt ist, bedeutet das nicht, dass das gesellschaftliche Interesse an den Klimaschutzzielen und am nachhaltigen Wirtschaften abgenommen hätte. Es manifestiert sich nur umso wirkungsvoller an den Finanzmärkten.

So hat sich in den letzten Jahren eine neue Anlageklasse gebildet: nachhaltige Investments. Es handelt sich dabei nicht nur um Investitionen in ökologisch effiziente Projekte, sondern auch um sozialverträgliche Geschäftsmodelle und Investitionen in Unternehmen, die bestimmte Standards guter Unternehmensführung befolgen. Mit Blick auf Anlageklassen spricht man auch oft von Environment, Social und Corporate Governance – kurz: ESG.

ESG-Investments haben in den letzten Jahren nicht nur aufgrund veränderter gesellschaftlicher Präferenzen eine hohe Nachfrage erfahren. Ein weiterer Grund könnte sein, dass sie in der Gesamtschau eine höhere Rendite erzielen und als Anlagen mit langfristig stabileren Gewinnspannen gelten, weil Risiken kontrollierbarer sind. So schnitten im ersten Quartal dieses Jahres fast 60 Prozent aller europäischen und amerikanischen börsengehandelten Indexfonds mit ESG-Werten besser ab als vergleichbare Marktindizes. Weltweit sind mittlerweile über 1,8 Billionen Euro in ESG-Fonds investiert – 1,1 Billionen davon kommen aus Europa.

Der Markt diszipliniert

ESG-Investments sind weit mehr als nur eine weitere Anlageklasse. Im Vergleich zu klassischen regelbasierten Steuerungsansätzen, die mehr Nachhaltigkeit im Wirtschaftssystem zu verankern suchen, sind ESG-Investments echte Game Changer. Ge- oder Verbote können vieles bewegen. Doch dauerhaft treffsicher sind sie nur selten, da sie die Präferenzen des Zeitpunkts abbilden, zu dem sie aufgestellt wurden. Dazu passt, dass sie Umgehungsverhalten hervorrufen – wie zuletzt die Manipulationen an Abgasrichtwerten europäischer Autohersteller zeigten.

Freilich wurden diese Schwächen in der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung der vergangenen Jahre adressiert – und alternative Lösungen vorgestellt: So haben sich marktbasierte Ausgleichsmechanismen – wie etwa das Emissionsrechtehandelssystem der Europäischen Union – eine respektable Stellung erarbeitet. Doch auch diese Mechanismen leiden, im Gegensatz zu ihren Vorbildern in akademischen Lehrbüchern, unter ungelösten Konstruktionsfehlern wie etwa der passenden Zuteilungsmenge und partiellen Marktineffizienzen.

Bei ESG-Investments hingegen stellen sich diese Probleme nicht: Hier rückt allein der Wettbewerb um die Gunst der Investoren Nachhaltigkeitsziele in einen ökonomischen Verwertungskontext, indem er sie mit Renditeerwartungen dynamisch verknüpft. Die Rückmeldung erfolgt in Echtzeit – über die Reaktionen des Markts. Das ist hart, und es diszipliniert. Können Unternehmen ESG-Anforderungen nicht erfüllen, werden sie aus Nachhaltigkeitsindizes ausgeschlossen. Massive Kapitalabflüsse sind die Folge, denn Anleger, die Wert auf immaterielle Reputationspflege legen, fahren ihr Engagement bei Anlagen, die ein niedriges ESG-Ranking haben, herunter.

Einheitliche Datenbasis wichtig

Unternehmen werden das zu verhindern wissen: Chemieunternehmen kümmern sich um einen höheren Anteil erneuerbarer Energien in ihrem Strommix, damit sie nicht aus ESG-Indizes fallen. Textil- und Sportartikelhersteller stellen sicher, dass nicht nur in der eigenen Fertigung, sondern auch bei Zulieferern Mindeststandards im Arbeitsschutz eingehalten werden. Und Industriekonzerne achten bei der Innenrevision darauf, dass bei erfolgreichen Ausschreibungen allein Preis und Qualität und nicht Korruption der Vater des Erfolgs ist.

Nachhaltige Investments stehen noch am Anfang ihrer Entwicklung. Eine besondere Herausforderung ist, dass es derzeit keine weltweit einheitlichen Bewertungsstandards für ESG-Anlagen gibt – und somit auch noch keine einheitliche Datenbasis. Nach wie vor prägen Insellösungen einzelner Anbieter das Bild. So bieten einige Indexanbieter an, bestimmte Sektoren aus ihren Indizes herauszufiltern, wie etwa Tabak oder Rüstung. Anspruchsvollere Dienstleister untersuchen Investitionsziele nach definierten Nachhaltigkeitskriterien und treffen eine Positiv-Auswahl.

Die Rückmeldung erfolgt in Echtzeit – über die Reaktionen des Markts. Das ist hart, und es diszipliniert.

Am zielgenauesten, aber auch technisch anspruchsvollsten ist das sogenannte Impact Investing. Hier werden Investitionen einzelnen ESG-Zielen untergeordnet und erlauben eine individuelle Aussteuerung nach Investorenpräferenz. Je zielgerichteter ein ESG-Investment sein soll, desto umfangreicher und verlässlicher muss indes die Datenbasis sein, denn ohne solide Daten gibt es keine oder nur eine eingeschränkte Wirkung.

Letztere ist jedoch nur dann gewährleistet, wenn Investoren Zugriff auf unternehmensübergreifende Daten haben, die eine relative Einordnung und Bewertung der Investitionsziele ermöglichen. Diese Daten müssen in engen Abständen aktualisiert werden, um den Zeitversatz zwischen nachhaltigem Unternehmenshandeln und Investorenreaktion zu verkürzen. Das ist bei Emissionsdaten sicherlich einfacher als bei Daten zur guten Unternehmensführung. Nur mit einer einheitlichen Datenbasis bieten sich Möglichkeiten zur Verbriefung, steigen Liquidität und Rendite und damit auch die Lenkungswirkung nachhaltiger Investments.

Weltweite Berichtsstandards könnten helfen, eine weltweit einheitliche Datenbasis aufzusetzen. Und genau hier werden gerade wichtige Weichen gestellt. In den USA arbeiten Ratingagenturen, Daten- und Indexanbieter längst an gemeinsamen Lösungen. Geschickt verknüpfen sie öffentlich verfügbare Daten der Vereinten Nationen mit Unternehmensdaten und eigenen Einschätzungen zu immer neuen Datensätzen – und setzen damit als First Mover die Standards im Markt.

Europa in Wartestellung

Europa hingegen ist noch immer in Wartestellung. Zwar gibt es auf europäischer Ebene mittlerweile umfangreiche Initiativen zur Standardisierung und Klassifizierung nachhaltiger Investmentprodukte, doch die Abstimmungsprozesse brauchen Zeit – und führen letztlich dazu, dass sich Anbieter von ESG-Anlagen an amerikanischen Standards orientieren. Sie haben keine Zeit zu warten, bis Brüsseler Gremien sich entschieden haben.

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr bietet die große Chance, auf europäischer Ebene die Rahmenbedingungen für nachhaltige Investments voranzubringen. Es wäre bedauerlich, wenn die Europäer – trotz ihrer führenden Rolle als ESG-Investoren – sich bei der Definition der Standards genauso abhängen lassen würden wie bei der Entstehung der Ratingagenturen vor über 100 Jahren.

Mehr noch: Wenn die Europäer nur folgen und nicht führen, gliche dies auch einer moralischen Bankrotterklärung. Europäer exportieren seit Jahrhunderten nicht nur erfolgreich Waren und Dienstleistungen, sondern auch immaterielle Güter, wie beispielsweise Verfassungen (Grundgesetz), Institutionen (Verbraucherschutz) und Werte (Umweltschutz, Menschenrechte). Europa hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder bewiesen, dass es in der Lage ist, weltweit Standards zu definieren und durchzusetzen (GSM Mobilfunkstandard, Eurostecker). Warum sollte das nicht auch im Bereich nachhaltiger Investments gelingen?

Dr. Nicolaus Heinen ist Executive Vice President Corporate Strategy / Chief of Staff bei der Deutsche Börse AG. Er ist Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung.

Dieser Beitrag ist zuerst im Heft „Wohlstand für Alle – Klimaschutz und Marktwirtschaft“ aus dem Jahr 2020 erschienen. Das Heft kann unter info@ludwig-erhard-stiftung.de bestellt werden; oder lesen Sie es hier als PDF.

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