Die Relevanz von Ordnungspolitik ist überall dort mit Händen zu greifen, wo Interventionismus und Punktualismus das Tagesgeschäft prägen, analysiert Hans Jörg Hennecke. Im Sinne Ludwig Erhards sollte ein ermutigendes Programm formuliert werden. Es wäre die Renaissance der Ordnungspolitik.

Die Idee der Ordnungspolitik steht heute in Opposition zum Zeitgeist. Denn sie berührt Kernfragen unseres Zusammenlebens, die im atemlosen Wettbewerb um Aufmerksamkeit unter die Räder geraten: Welche Bedeutung haben allgemeingültige Regeln und verlässliche Institutionen für das Zusammenleben der Menschen? Welche Folgen haben punktuelle Eingriffe des Staates auf Regelerwartungen, Rechtsgefühl und Verhalten von Individuen? Warum bilden sich komplexe Gesellschaften, wenn es keine einheitliche Wertehierarchie gibt? Wie werden Freiheit und Wohlstand in einer Welt gesichert, in der man mit unvollkommenen Menschen rechnen muss?

Ohne einen theoretisch fundierten Begriff von Ordnung ist man bei der Beantwortung solcher Fragen nicht nur aufgeschmissen; sie kommen einem noch nicht einmal in den Sinn. Die Relevanz von Ordnungspolitik ist überall dort mit Händen zu greifen, wo Interventionismus und Punktualismus das politische Tagesgeschäft prägen: im Arbeitsrecht, im Baurecht und im Mietrecht beispielsweise sowie noch viel gravierender in der derzeitigen Währungspolitik.

Die europäische Integration droht derzeit aber nicht nur an den kostspieligen Rettungsversuchen für die kränkelnde Währungsunion zu scheitern. In vielen Politikfeldern greift eine Zentralisierung der Kompetenzen um sich, die den politischen Wettbewerb und den Spielraum für dezentrale Lösungen einengt. So werden Interessenkonflikte unnötig geschürt und Vertrauenskrisen mit Sprengkraft heraufbeschworen – nicht nur in Großbritannien oder Katalonien.

Auch die Demokratie in der Bundesrepublik leidet unter einer Erosion von Vertrauen, wenn man den schrumpfenden Rückhalt der Volksparteien oder den Erfolg systemkritischer Protestparteien anschaut. Die Komplexität der Entscheidungsprozesse, die um sich greifende Finanzverflechtung und die mangelnde Subsidiarität der Zuständigkeiten erhöhen Konsenszwänge und erschweren Reformstrategien. So entstehen Verantwortungskartelle, die eine Machtkontrolle durch Wahlen und Öffentlichkeit verhindern.

Die Finanzillusionen des Wohlfahrtsstaats tragen ihr Scherflein zur Entfremdung zwischen Bürgern und politischen Institutionen bei. Denn die Vertrauenswürdigkeit der Demokratie hängt auch von der Tragfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und der öffentlichen Haushalte ab.

Auswege und Alternativen weist nur ein politisches Denken und Handeln, das ordnungstheoretisch verankert ist. Dessen Stärke liegt im Zusammendenken der kurzfristigen und langfristigen, der unmittelbaren und der mittelbaren Wirkungen politischen Handelns. Ordnungsdenken kann lehren, wie politische Akteure durch kluge Institutionen und robuste Regeln zu Verantwortung und Selbstdisziplin angehalten werden. Daraus erst kann Vertrauen in Institutionen erwachsen.

Die Idee der Ordnungspolitik ist allerdings kein Selbstläufer. Sie muss Anschluss halten an die methodischen Entwicklungen in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Sie muss konsequent die aktuellen Fragen aufgreifen – auch solche, zu denen bei den Gründervätern keine schlüsselfertigen Antworten zu finden sind. Sie darf sich nicht auf die undankbare Rolle einer Kassandra zurückdrängen lassen, sondern muss, wie dies einst Ludwig Erhard vermochte, ein attraktives, ermutigendes Programm formulieren. Dann könnte man sagen: Die Idee der Ordnungspolitik steht in den Startlöchern.

Prof. Dr. Hans Jörg Hennecke ist Geschäftsführer von HANDWERK.NRW und außerplanmäßiger Professor an der Universität Rostock.


Dieser Beitrag ist zuerst in der Publikation der Ludwig-Erhard-Stiftung „Wohlstand für Alle – 70 Jahre Währungsreform“ aus dem Jahr 2018 erschienen. Laden Sie das gesamte Heft hier als PDF herunter. Die Print-Ausgabe kann über info@ludwig-erhard-stiftung.de bestellt werden.

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