Vieles verändert sich durch die Corona-Pandemie. Doch die marktwirtschaftliche Ordnung und die internationale Arbeitsteilung werden auch in Zukunft die wesentlichen Werttreiber für unsere Volkswirtschaft bleiben. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ab 1. Juli 2020 werden die Weichen für die Zukunft Europas gestellt werden.

Corona verändert nicht nur unseren Alltag, sei es im Beruf oder in der Familie. Das kleine Virus hat auch ungeahnte Wirkung auf die Finanzpolitik und die Kapitalmärkte. Nie zuvor wurde weltweit mit solchen Summen in den öffentlichen Haushalten und in den Unternehmen hantiert. Nie zuvor haben notwendige Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung so tiefe Spuren in der Wirtschaft hinterlassen. Und ein Ende ist nicht absehbar. Es kann sein, dass die Infektionsraten unter einer kritischen Schwelle bleiben, es kann aber auch sein, dass wir noch Monate oder gar Jahre mit dem Ansteckungsrisiko leben müssen.

Sicher ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur, dass viele alte Gewissheiten innerhalb von wenigen Wochen keine Geltung mehr haben. Eine Rückkehr zur „Normalität“ wird es in dem Sinne, dass schnell wieder alles wird wie vor der Krise, nicht geben. Erstmalig in den letzten 70 Jahren müssen wir uns auf Wohlstandsverluste einstellen. Der Weg aus der Rezession heraus wird lang und beschwerlich, und er wird nur gelingen, wenn die Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt und die Unternehmen so ausgestaltet werden, dass daraus ein hohes Maß an Motivation und Zuversicht entsteht. Dann kann in der Krise sogar eine Chance liegen, unsere Industrie und die gesamte Volkswirtschaft so aufzustellen, dass sie die ökonomischen Herausforderungen im schon begonnenen 21. Jahrhundert bestehen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen einige Voraussetzungen und einige Grundannahmen in Erfüllung gehen.

Zu den wesentlichen Grundannahmen gehört, dass die marktwirtschaftliche Ordnung und die internationale Arbeitsteilung auch in Zukunft die wesentlichen Werttreiber für unsere Volkswirtschaft bleiben. Beide Parameter werden sich verändern. Die Marktwirtschaft muss erneut beweisen, dass sie in der richtigen Balance zwischen staatlicher Regulierung und unternehmerischer Freiheit das Wohlstandsversprechen für breite Teile der Bevölkerung einlösen kann. Zugleich muss die Marktwirtschaft regulatorisch so umgebaut werden, dass sie den Verbrauch endlicher Ressourcen und die Belastung der Umwelt mit Schadstoffen als Kosten internalisiert und zum Bestandteil ihrer wettbewerblichen Kalkulation macht. Das europäische Emissionshandelssystem zeigt hier in die richtige Richtung und hat seine Bewährungsprobe schon jetzt bestanden, obwohl noch längst nicht alle Emittenten daran beteiligt sind.

Die Europäische Union als globaler Spieler?

Mindestens ebenso spannend wie die ordnungspolitischen Fragen ist die Frage nach der Zukunft der Globalisierung. Die rasante Verbreitung des Corona-Virus ist auch ein Ergebnis der Globalisierung, und so ist es keine Überraschung, dass nicht nur das Virus selbst, sondern auch die globale Vernetzung für diese Pandemie verantwortlich gemacht wird. Doch im Schatten der Pandemie beschleunigen sich gegenwärtig die Veränderungen der globalen Kräfteverhältnisse, und darauf sollte sich vor allem das Augenmerk der Wirtschaftspolitik richten.

Die Beschleunigung betrifft eine Entwicklung, die wir in der Welt schon seit geraumer Zeit beobachten können. Zusammengefasst lässt sie sich wie folgt charakterisieren: Die Vereinigten Staaten von Amerika befinden sich (wieder einmal) in einer Phase des Rückzugs auf die eigenen Interessen. Diese Phase wird auch im Falle eines Regierungswechsels im Herbst 2020 nicht abrupt enden, es handelt sich vielmehr um einen langfristigen zyklischen Prozess, der schon lange vor Trump begonnen hat und der auch nach ihm zumindest für eine gewisse Zeit, vielleicht sogar für einen sehr langen Zeitraum anhalten wird. Die Volksrepublik China tritt mit einem autoritären Machtanspruch auf die Weltbühne, verfolgt über das Seidenstraßenprojekt einen strategischen imperialen Ansatz und besetzt mit einer geschickten Personalpolitik wichtige Positionen, die vor allem die USA in den internationalen Organisationen nach ihrem Rückzug hinterlassen. Europa ringt derweil um seine eigene Rolle in der Welt, das Maß an Geschlossenheit verharrt weit unterhalb der Schwelle einer globalen Relevanz, wenn denn eine solche Relevanz von der Gemeinschaft der Mitgliedstaaten überhaupt einvernehmlich gewollt wird. Der Brexit kommt in dieser Phase der politischen Entwicklung zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt und schwächt die Europäische Union mit dem Ausscheiden der zweitgrößten Volkswirtschaft in politischer und ökonomischer Hinsicht sowohl nach innen wie nach außen.

Eine vollständige Analyse müsste auch die Perspektiven verschiedener anderer Regionen berücksichtigen. Aber vermutlich ist die Annahme nicht falsch, dass die Welt des 21. Jahrhunderts nach Corona aus zwei oder drei wesentlichen politischen und ökonomischen Zentren bestehen wird, nämlich den Vereinigten Staaten von Amerika und China sowie – wenn denn gewollt und erreichbar – der Europäischen Union. Die entscheidende Frage an uns Europäer lautet also: Wollen wir diese Rolle eines globalen Spielers politisch und ökonomisch einnehmen und – wenn ja – können wir das überhaupt? Reichen unsere politischen und wirtschaftlichen Ressourcen gegebenenfalls aus, um im Kreis der globalen Mächte dabei zu sein?

Weichenstellung für Europa während der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands

Historisch betrachtet hat China alle Argumente auf seiner Seite, die führende politische und wirtschaftliche Macht des 21. Jahrhunderts zu werden. Sie war vor zwei Jahrhunderten schon einmal in der Spitzenposition, das BIP von China war zu Beginn des 19. Jahrhunderts größer als das der USA, von Europa und Japan zusammen. Insoweit knüpft die chinesische Staatsführung an einen Anspruch an, den sie schon einmal in der chinesischen Geschichte als erfüllt angesehen hat, und sie mobilisiert auf diese Weise den Stolz und den Fleiß des chinesischen Volkes bis hin zu einer weitgehenden Akzeptanz des autoritären Führungsanspruchs der Kommunistischen Partei. Amerika war sich in seiner wesentlich kürzeren Geschichte immer wieder selbst genug, die Phasen eines weltweiten Engagements waren eher kurz und wurden in der Regel immer erst eingeleitet, wenn die in Europa begonnenen Kriege außer Kontrolle gerieten oder – wie in jüngerer Zeit – der Terrorismus auch das eigene Territorium und die eigenen Interessen massiv bedrohte. Insoweit erleben wir seit einigen Jahren das Ende eines Zeitalters, und zwar das Ende der nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten Pax Americana, der politischen Ordnung, die von der amerikanischen Führungsrolle und Ordnungsmacht geprägt war.

Europa wird daher der Frage nach der eigenen Souveränität nicht länger ausweichen können. Souveränität ist dabei im umfassenden Sinne gemeint, außen- und sicherheitspolitisch ebenso wie technologisch und wirtschaftspolitisch. Die Abhängigkeiten, die die großen Wirtschaftsräume in den letzten Jahrzehnten eingegangen sind, beruhen auf Gegenseitigkeit, aber die jeweils schwächere Position hatte und hat zumeist die Europäische Union – sicherheitspolitisch gegenüber den Vereinigten Staaten, wirtschaftlich gegenüber China und anderen Ländern in Asien. Die mangelnde Versorgung mit Atemschutzmasken und Beatmungsgeräten werfen ebenso wie die fehlende Basis für die Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten ein Schlaglicht auf diese Schwäche Europas.

Wenn sich daran für die Zukunft etwas ändern soll, dann müssen alle Rettungsmaßnahmen für die Wirtschaft in Europa, die jetzt beschlossen werden, auch und vor allem unter dem Blickwinkel erfolgen, dass die europäische Industrie nach der Krise wettbewerbsfähig ist. Und Wettbewerb findet nicht nur innerhalb des Europäischen Binnenmarktes statt, sondern auch auf den globalen Märkten. Gleichzeitig sollte es eine strategisch ausgerichtete Re-Lokalisierung derjenigen Wertschöpfungsketten geben, deren Erhalt in unserem europäischen Interesse liegt: Vor allem die digitale Infrastruktur einschließlich ausreichender Kapazitäten für die Datenverarbeitung, aber auch alle Anstrengungen in der Künstlichen Intelligenz, der Biotechnologie, der Nanotechnologie, der Energiepolitik und mancher anderer Industrien mehr müssen darauf ausgerichtet sein, Europas ökonomische Souveränität zu stärken und Abhängigkeiten von anderen Wirtschaftsräumen zu reduzieren. Dabei ist es ein reiner Zufall im Zeitablauf, dass diese Themen und ihre Verankerung im Haushalt der Europäischen Union während der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 entschieden werden müssen und dies gleich für die nächsten sieben Jahre, denn so weit reicht die jetzt anstehende nächste Periode der finanziellen Vorausschau der Europäischen Union. Die bisher für die europäische Politik in Aussicht gestellten Mittel reichen dabei ganz unabhängig von Corona und seinen Folgen schon nicht aus, um die Aufgaben zu erfüllen, die die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bereits übertragen haben. Jetzt muss es noch einmal deutlich mehr sein. Im zweiten Halbjahr 2020 wird europäische Geschichte geschrieben, es werden die Weichen gestellt für unseren Kontinent. Weltliga oder Bezirksklasse – Europa hat die Wahl.

Friedrich Merz ist Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung. Dieser Artikel ist zuerst am 6. Juni 2020 in der Sonderbeilage „Investor Relations“ der Börsen-Zeitung erschienen.

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