Am 5. Mai jährt sich der Todestag Ludwig Erhards. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir eine Würdigung von Kurt Biedenkopf zu Ludwig Erhards Tod im Jahr 1977, die den Mut Erhards betont und das gegenseitige Vertrauen zwischen ihm und den Menschen als Basis für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Leistung erkennt. Der Text wurde dem von Karl Hohmann für die Ludwig-Erhard-Stiftung herausgegebenen Buch „Ludwig Erhard: Erbe und Auftrag. Aussagen und Zeugnisse“ entnommen.

Es ist selten in der Geschichte der Menschheit, dass es gelingt, die Utopien von Generationen zur Wirklichkeit ihrer Nachfahren werden zu lassen. Ludwig Erhard ist es gelungen. Er hat die Hoffnung auf eine freie, soziale, gerechte, sicher gefügte Wirtschafts- und Sozialordnung, die die Menschen seit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts ersehnten, zur Wirklichkeit von heute geführt. Darin liegt sein historisches Verdienst. Und dafür schulden wir ihm Dank.

Utopien von heute seien nach seiner Erfahrung nicht selten die Voraussetzung der konkreten Wirklichkeit von morgen, hat Erhard einmal gesagt. Und er hat danach gehandelt. Wem musste es nicht utopisch erscheinen, den Professor an der Handelshochschule in Nürnberg schon während der letzten Kriegsjahre über eine neue, freie und soziale Ordnung nachdenken, diskutieren und schreiben zu sehen; ohne Rücksicht auf die Gefahr, die jedem drohte, der das Ende der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus als Möglichkeit voraussah. Und war es nicht politischer Wahnsinn, einem geschlagenen, hungernden, an seinem eigenen Schicksal und seiner Zukunft zweifelnden Volk den Sprung in die Marktwirtschaft und damit in die Ungewissheit zuzumuten?

Es war dieser Mut zum Wagnis, der Ludwig Erhard auszeichnete. Und sein sicheres Gespür für das Machbare und sein fast grenzenloses Vertrauen in die Bereitschaft der Menschen, mitzumachen, anzupacken und Verantwortung zu übernehmen. Die Menschen sind ihm gefolgt. Sie haben sein Vertrauen in ihre Fähigkeiten nicht enttäuscht, wie Ludwig Erhard das Vertrauen der Menschen in seine Fähigkeit, sie von der Utopie zur Wirklichkeit zu führen, nicht enttäuschte. Entstanden ist aus diesem Verhältnis gegenseitigen Vertrauens eine wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Leistung, die unser Land bis heute bestimmt.

Manche haben später versucht, Erhards Leistung auf seine Entscheidung für die Marktwirtschaft zu begrenzen. Sein einziges wirkliches Verdienst sei es gewesen, 1948 die Bewirtschaftung aufgehoben und den Kräften des Marktes freie Bahn verschafft zu haben. Aber die Überzeugung Ludwig Erhards, dass es „einer neuen und geläuterten Wirtschafts- und Sozialordnung bedarf, um nicht nur in materieller, sondern auch in geistig-sittlicher Beziehung unsere gültige Demokratie in uns selbst lebendig sein zu lassen und dazu auch noch nach außen vor der Welt glaubhaft zu machen“, war nicht mit einer Entscheidung allein Genüge getan. Damit „die Ordnung, die wir uns, auf dem Grundgesetz aufbauend, gegeben haben, ein festgefügtes Fundament unseres Staatswesens“ werden konnte, war mehr nötig, als die Kräfte des Marktes zu entfesseln.

Ludwig Erhard hat das Notwendige selbst beschrieben. Mit der Entscheidung, die Methoden der Planwirtschaft durch die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft abzulösen, sei „nicht die Aufgabe des Staates, Wirtschaftspolitik zu betreiben, aufgehoben. Gerade das Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft verlangt vielmehr eine sehr viel klarer durchdachte Form der Wirtschaftspolitik als jedes andere Wirtschaftsprinzip.“ Gilt es doch, der Politik eine Form zu geben, durch die unternehmerische Initiative in die richtigen Bahnen gelenkt wird.

Ludwig Erhard hat mit seinen Überzeugungen nicht nur die Aufgabe einer modernen freiheitlichen Wirtschaftspolitik umrissen. Er hat damit zugleich auch sein wichtigstes Lebenswerk beschrieben: eine reifere politische und freiheitliche Wirtschafts- und Sozialordnung zu gestalten und zu erhalten. Für ihn gab es dabei nie einen Zweifel an dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Leistung, sozialem Frieden und politischer Freiheit. In den Düsseldorfer Leitsätzen der CDU von 1949 fand dieser Zusammenhang seinen programmatischen Ausdruck. Erhard ist nie müde geworden, ihn zu betonen.

Dazu bestand schon bald Anlass. Denn die Kräfte, die mit der Freigabe persönlicher Initiative durch den Sprung in die Marktwirtschaft freigesetzt wurden, waren gewaltig. Sie trieben nicht nur den Aufbau voran. Sie bildeten auch neue Machtbesitzstände und bedrohten die Einsicht in die notwendigen Bindungen der freien Initiative. So sah sich die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik bald vor neue Aufgaben gestellt.

Die parlamentarische Demokratie, so mahnte er seine eigene Partei im Frühjahr 1965, dürfe nicht länger den organisierten Interessen unterworfen sein. Wie in anderen Bereichen, so dürfe auch „die Sozialpolitik“ nicht länger als fortdauernde Anstückelung von Leistungen verstanden werden. „Unsere vordringliche Aufgabe wird es also sein, die Sozialpolitik von überflüssigem Gestrüpp zu befreien, das Gefüge unserer Sozialleistungen rationeller, überschaubarer und zugleich für den Bürger effizienter zu gestalten.“

Niemand könnte die sozialpolitischen Fragestellungen unserer Gegenwart besser beschreiben, als Ludwig Erhard es mit diesen Worten vor zwölf Jahren getan hat. Seine Weitsicht hat ihn auch hier die Probleme der modernen Wohlstandsgesellschaft erkennen lassen, die seine Partei zehn Jahre später als Neue Soziale Frage beschrieb. Ludwig Erhards Versuch, die auseinanderstrebenden Interessen in der Formierten Gesellschaft einzufangen, war nicht erfolgreich. Es lag weniger am Ziel als an der weithin fehlenden Bereitschaft einer vom steilen wirtschaftlichen Wachstum faszinierten Gesellschaft, sich den Bindungen zu unterwerfen und die Grenzen anzuerkennen, die sich aus der Verantwortung für den Nächsten und für die Allgemeinheit ergeben. Die Vernunft der Bürger, auf die er vertraute, war den Versuchungen eines scheinbar unbegrenzten Wachstums nicht gewachsen. Erst der Ölschock des Jahres 1973 und eine weltweite Rezession haben das Gleichgewicht zwischen Wunsch und Wirklichkeit wiederhergestellt.

Ludwig Erhard war ein großer Mann. Er hat die Not unseres Volkes zu neuem Anfang gewendet. Er war unseres Vertrauens würdig. Ob wir seines Vertrauens würdig sind, wird sich daran zeigen, wie wir die Freiheit bewahren, zu der er so viel beigetragen hat.

Kurt Hans Biedenkopf war von 1973 bis 1977 als Generalsekretär der CDU tätig und gehörte von 1976 bis 1980 dem Deutschen Bundestag an. Von 1990 bis 2002 war er der erste Ministerpräsident des Freistaates Sachsen nach der Wende (Quelle: Wikipedia).

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