Ulrich Klotz, Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung, schlägt im fünften Teil unserer Artikelserie zum Thema Asylpolitik vor, bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise die Möglichkeiten der modernen Informationstechnologie besser zu nutzen.

Bei den rapide anschwellenden Migrationsbewegungen zeigt sich, welch immense Bedeutung mobile Kommunikationsmöglichkeiten haben, die es vor wenigen Jahren so noch nicht gab und die inzwischen auch in entlegenen Winkeln der Welt zum Alltag gehören. Smartphone-Videos von applaudierenden Menschen an deutschen Bahnsteigen und Selfies von Flüchtlingen mit „Mama“ Merkel verbreiten sich in den Elendsquartieren dieser Welt binnen Minuten millionenfach. YouTube, Facebook, Twitter & Co. stellen in ihren Wirkungen alles in den Schatten, was mit klassischen Massenmedien bislang möglich war. Vor allem in jenen Regionen, in denen man sich bislang kaum ein Bild von anderen Teilen der Welt machen konnte.

Welche Wirkungen Bilder haben, konnte man schon bei der Volkswanderung erleben, die dem Mauerfall vorausging. Damals war es das Fern-Sehen, dass den eingesperrten Menschen im Osten half, ihre eigene Lage zu erkennen und sich in Bewegung zu setzen. Vermutlich hat das heutige Fernsehen auf Milliarden mobilen Bildschirmen weit intensivere Wirkungen, weil es von Menschen wie Dir und mir gemacht wird und deshalb als authentischer empfunden wird. Die Schleuserindustrie bedient sich in nahöstlichen Flüchtlingslagern und afrikanischen Failed States derselben Mittel wie die oftmals zweifelhaften YouTube-„Stars“, die weltweit zig Millionen Teenies zu naiven Followern werden lassen – hier wie dort werden Illusionen erzeugt und damit große Geschäfte gemacht.

Die Schlüsselrolle der sozialen Medien

Eine Politik, die erst leichtfertig Wasser auf die Mühlen der Schlepper gießt und angesichts der selbst losgetretenen Lawinen anschließend flickschusternd nach Notbremsen sucht, ist in ihrer Kurzsichtigkeit, Konzeptionslosigkeit und in ihren Konsequenzen beängstigend. Gut gemeint kann besonders inhuman sein. Wenn man Hoffnungen weckt, die man anschließend nicht einlösen kann, können Enttäuschungen in Wut umschlagen. Dann gerät der soziale Frieden in Gefahr, weil Radikale und Populisten neuen Zulauf erhalten. Leider hat Politik noch kaum erkannt, welche Schlüsselrolle die sogenannten sozialen Medien etwa bei der Nachwuchsrekrutierung von Dschihadisten, Neonazis und anderen Irregeleiteten spielen.

Wenn sich Kommunikationsformen ändern, dann wandelt sich das Fundament einer Gesellschaft. Das wissen wir spätestens seit Gutenberg. In einer neuen Welt, in der immer mehr Menschen private TV-Sender mit globaler Reichweite in der Hosentasche herumtragen, müssen Politiker begreifen, dass auch sie nicht mehr so weitermachen können wie bisher. Doch für die Mehrzahl der zurzeit amtierenden Politiker ist das Merkel’sche „Neuland“ offenkundig noch unbekanntes Terrain – sie leben gedanklich im „Altland“, in einer geradezu irrealen Welt von gestern. Diese Art von Politik wird mehr und mehr zu einer Gefahr für unsere Gesellschaft.

Gute Politik sollte in der Lage sein, Entwicklungen zu antizipieren, um sie gestalten zu können. Doch bei vielen weltbewegenden Entwicklungen erleben wir das genaue Gegenteil. Weil sie die wichtigste Entwicklung der letzten Dekaden, das Aufkommen der Informationstechnik, jahrzehntelang völlig verkannt haben, sind Politiker bestenfalls in der Rolle staunender Zaungäste. Viele weitreichende Veränderungen unserer Welt werden heute nicht in Politikerhirnen, sondern ganz woanders gestaltet. Mit der Folge, dass nicht nur Politiker, sondern nun auch viele Manager in regelrechter Digitalisierungs-Panik wie die Kaninchen auf die Schlange Silicon Valley starren. Gut möglich, dass sich bisherige Ignoranz und Arroganz demnächst bitter rächen. Auch ohne suizidale Dummheiten à la Volkswagen könnte unseren verbliebenen Industriezweigen ein Schicksal drohen, wie wir es zuletzt bei Nokia sahen. Wenn Hochmut vor dem Fall kommt, geht es nicht nur um Arbeitsplätze. Auch Grundrechte, wie das auf informationelle Selbstbestimmung, sind infolge der Ignoranz unserer Politik inzwischen auf der Strecke geblieben.

Planvolle Einwanderungspolitik statt kopflose Asylpolitik

Dem Recht auf Asyl droht nun ein ähnliches Schicksal: ein weiteres Grundrecht, das noch auf dem Papier steht, aber in der Praxis nicht mehr durchsetzbar ist. „Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze“, sagt die Kanzlerin. Schön wär’s. Solche Sätze haben ähnliche Qualität wie der ihres Ex-Ministers Pofalla, als er die NSA-Affäre für beendet erklärte: Es sind beängstigend naive Versuche, das Publikum für dumm zu verkaufen. Dass in einer endlichen Welt irgendwann alles an unüberwindbare Grenzen stößt, dürfte eine Physikerin nicht vergessen haben. Es gibt immer einen Punkt, an dem auch noch so guter Wille und auch das Grundgesetz nicht mehr helfen können. Spätestens dann wird es in Europa heißen: „Wir schaffen das nicht“ – und was dann?

Statt kopfloser Asylpolitik brauchen wir eine planvolle Einwanderungspolitik. Andernfalls wird Integration und vielleicht auch das „Projekt Europa“ scheitern. Statt leichtfertig dort Illusionen und hier Ängste zu wecken, kann man beispielsweise mithilfe erfahrener Migranten hier wie dort realitätsnahe Informationen und praktische Hilfestellungen verbreiten. Viel besser als überforderte Politiker und Polizisten könnte eine aufgeklärte „Crowd“ nicht nur am Bahnsteig, sondern auch im Netz helfen, einem gefährlichen Chaos vorzubeugen. Das „Neuland“ bietet dazu viele Möglichkeiten.

Dieser Beitrag ist erstmals im Oktober in der Zeitschrift „Computer und Arbeit“ (Ausgabe 10/2015) auf Seite 3 erschienen.

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