Eine neue Denkrichtung relativiert die Staatsverschuldung. Warum Ökonomen höhere Staatsschulden in Zeiten niedriger Zinsen als ungefährlich einstufen.

Die Befürworter schuldenfinanzierter Staatsbudgets waren um Argumente noch nie verlegen. Der Staat könne sich doch nicht in der Klischeerolle als „schwäbische Hausfrau“ einrichten, die ständig weniger ausgibt, als sie einnimmt, um für Notzeiten zu sparen. Der Staat müsse fortlaufend in seinen Kapitalstock investieren, auch mit Krediten, um die Infrastruktur und das Bildungsniveau seiner Bürger à jour zu halten. Nur so seien langfristig Wirtschaftswachstum und Wohlstand zu garantieren. In einer Rezession müssten erst recht alle Kredit-Schleusen geöffnet werden, weil man ansonsten durch Sparen den Abschwung verstärke und verlängere – ein durchaus richtiges Argument!

„Deficit spending“ war die Vokabel, die der Ökonom John Maynard Keynes dafür in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts prägte. Doch aus dem „deficit spending“ in der Krise mit entsprechend hohen Haushaltsdefiziten wurde in vielen Staaten eine dauerhaft schuldenfinanzierte Wohlfahrt. Denn auch in guten Zeiten wurden die Defizite kaum zurückgeführt. Von einer Null-Verschuldung über den gesamten Konjunkturzyklus, für die auch Keynes aus gutem Grund einst eingetreten war, wollten die ihm in späteren Jahrzehnten nachfolgenden Vulgär-Keynesianer noch nie etwas wissen. Ohne „das süße Gift der Staatsverschuldung“, wie einst die Deutsche Bundesbank warnte, konnten die Politiker aller Couleur ihre Volksbeglückung überhaupt nicht finanzieren.

Deshalb haben unzählige Staaten, Industrie- wie Schwellen- und Entwicklungsländer, in vielen Jahrzehnten immer höhere Schulden angehäuft. Noch nie war der globale Schuldenstand höher als im vergangenen Jahr. Das IWF-Ranking der Staatsverschuldung führt Japan mit 238 Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) an. Danach folgt mit Griechenland und 188 Prozent Schuldenquote das erste Euro-Land. Mit Italien und 130 Prozent steht ein weiteres Euro-Land auf Platz 6. Ein Entwicklungsland wie der Sudan rangiert mit 168 Prozent auf Platz 3. Die größte Volkswirtschaft der Welt, die USA, belegen mit 106 Prozent derzeit Platz 14. Dort dreht sich die Verschuldungsspirale unter Präsident Trump immer schneller. Allein im letzten Quartal 2018 summierte sich das Defizit des US-Budgets auf unvorstellbare 317 Milliarden Dollar oder 6 Prozent (!) der Wirtschaftsleistung.

Schöne neue Sicht auf weitere Schuldenorgien

Doch gerade am Beispiel der USA versuchen Ökonomen eine neue Denkschule zur Staatsverschuldung zu begründen, um die vorherrschende Angst vor überbordender Kreditfinanzierung der öffentlichen Haushalte zu lindern. Ein führender Vertreter dieser neuen „Schulden-sind-nicht-schlimm-Bewegung“ ist der ehemalige Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF) Olivier Blanchard. Er arbeitet jetzt für einen konservativen Think Tank in Amerika und hat eben erst ein aufsehenerregendes Diskussionspapier mit dem Titel „Staatsschulden und niedrige Zinsen“ vorgelegt. Die Quintessenz lautet: Hohe Staatsschulden sind dann kein Problem, wenn die Zinsen nicht über der Wachstumsrate eines Landes liegen.

Seine These gipfelt in der einfachen Formel: Wenn das nominale Wachstum einer Volkswirtschaft, also die Summe aus realem Wachstum und der Inflationsrate, höher liegt als die vom Staat zu bezahlenden nominalen Zinsen für seine Kredite und die fortwährende Anschlussfinanzierung auslaufender Schuldtitel (Zinseszinseffekt), dann steigt zwar der absolute Schuldenstand, doch die Schuldenquote im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung sinkt. Der Finanzminister braucht also weder zu sparen noch die Steuern für Bürger und Wirtschaft zu erhöhen.

Diese schöne neue Sicht auf weitere Schuldenorgien in Zeiten niedriger Zinsen, versucht Blanchard mit einer Auswertung des Zinsniveaus der USA von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart zu belegen. Seit damals sei die US-Wirtschaft durchschnittlich um 6,3 Prozent gewachsen. Die vom Staat zu bezahlenden Zinsen hätten dagegen lediglich bei 3,8 Prozent gelegen. Nur in den 1980er Jahren habe der Zins in den USA über der Wachstumsrate gelegen. Selbst die Rekord-Verschuldungsnation Japan belegt laut Blanchard seine These. Dort müsse der Finanzminister aktuell im Schnitt gerademal 0,1 Prozent Zinsen auf Staatspapiere bezahlen, während die Wachstumsrate des Landes bei rund 1,4 Prozent liegt. Deshalb rät der französische Ökonom: „Anders als immer gedacht, haben Schulden keine hohen fiskalischen Kosten, und auch die Kosten für die soziale Wohlfahrt sind vernachlässigenswert.“ Die Regierungen sollten sich deshalb nicht so stark auf die Schulden konzentrieren.

Unabsehbare Folgen für soziale und politische Stabilität

Blanchard ist übrigens selbst vom Saulus zum Paulus geworden. Als junger Wissenschaftler warnte er mit der herrschenden Meinung davor, dass hohe Schulden zusätzlichen Wohlstand kosten. Denn hohe Staatsverschuldung lasse bei Bürgern und Wirtschaft die Sorge wachsen, dass sie für unsolide Staatsfinanzen über kurz oder lang zur Kasse gebeten werden. Das führe zur Investitions- und Konsumzurückhaltung und bremse das Wirtschaftswachstum. Je höher die Schuldenquote, desto stärker falle dieser Effekt aus.

Politiker und Vulgär-Keynesianer werden diese Sirenenklänge begierig aufgreifen: Verschuldung null problemo! Unpopuläre Sparprogramme: verzichtbar! Endlich kann man mit den höheren Weihen willfähriger Ökonomen kreditfinanzierte Schecks unters Volk verteilen. Erschreckend ist nur, dass diese neue Denkschule eine Reihe von Risiken und Nebenwirkungen ausschaltet. In Zeiten global rückläufiger Wachstumsraten sind nämlich dauerhaft niedrige Zinsen erforderlich. Die Zentralbanken, mögen sie auch auf dem Papier so unabhängig organisiert sein wie die Europäische Zentralbank (EZB), werden damit immer mehr zu Getriebenen der Politik (und der Märkte). Klassisches Altersvorsorgesparen, wie es gerade die Deutschen bevorzugen, rentiert sich immer weniger. Dabei ist das Vorsorgesparen in Zeiten des demografischen Wandels notwendiger denn je. Die Altersvorsorge wird entspart, weil die Inflation den niedrigen Zins auffrisst. Die Aktien- wie die Immobilienmärkte werden künstlich aufgeblasen, weil der kreditfinanzierte Run auf Sachwerte bei vielen Investoren den Verstand ausschaltet.

Dieser Prozess läuft bereits seit Jahren. Da braucht keiner zu unken. Denn wenn die Zinsen künstlich niedrig gehalten werden, dann „lohnt“ sich ja die Verschuldung auch für Unternehmen und Bürger. Deshalb explodieren nicht nur die Staatsschulden, sondern auch die Privat- und Unternehmensschulden fast überall auf dem Globus. Staaten finanzieren ganz überwiegend Sozialausgaben mit Krediten. Die Investitionsquoten sind fast überall rückläufig. Die börsennotierten Unternehmen der Welt haben ihre Rekordgewinne der jüngeren Vergangenheit überwiegend nicht in Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen gesteckt, sondern in die Rückkäufe ihrer eigenen Aktien. Wer diese besorgniserregende Entwicklung nicht sieht, legt mit seiner neuen Denkschule zur Verschuldung eine Lunte, an deren Ende ein neuer globaler Crash mit unabsehbaren Folgen für die soziale und politische Stabilität droht.

Oswald Metzger ist stellvertretender Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung.

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