Wie sind die im Koalitionsvertrag formulierten Pläne der Großen Koalition nach den Erhard’schen Prinzipien von Freiheit und Verantwortung zu bewerten? Lesen Sie die Antwort von Prof. Dr. Andreas Freytag, Professor für Wirtschaftspolitik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Selten war so viel Leere nach erfolgreichen Koalitionsverhandlungen, nie gab es weniger Aufbruchsstimmung als in den vergangenen Tagen, nachdem die Verhandlungsführer den Abschluss eines Koalitionsvertrages für die sogenannte Große Koalition verkündet hatten.

Dabei kann das Ergebnis der Absprachen nach den monatelangen Verhandlungen kaum überraschen. Aufregung oder Entrüstung sind also nicht angesagt. Dennoch ist das Ausmaß, in dem die neue Bundesregierung die Herausforderungen der Zukunft an die Produktivität der Volkswirtschaft vernachlässigt, überraschend. In vielen Bereichen geht es weiter so wie bisher, die drängendsten Herausforderungen wie der demografische Wandel, die Zuwanderungsproblematik und die Digitalisierung werden entweder ignoriert oder nur halbherzig angegangen. Einzig in der Bildungspolitik kann man etwas Dynamik erkennen.

Es fällt auf, dass sich gerade die Sozialdemokraten auf Nebenkriegsschauplätze konzentriert haben. Das Gesundheitssystem mag nicht perfekt sein, aber es ist im Grunde keine Zweiklassengesellschaft: Ernsthaft Kranke werden immer prioritär und vor allem angemessen behandelt. Probleme liegen vor allem bei den zu hohen Bettenzahlen in Krankenhäusern und der ungleichmäßigen ärztlichen Versorgung über die Fläche. Aber das hat die Sozialdemokraten offenbar nicht interessiert.

Ähnlich unverhältnismäßig war der Einsatz auf dem Arbeitsmarkt. Dort fallen die neuen Regulierungen zwar weniger restriktiv aus als befürchtet, allerdings wäre beim Thema der sachgrundlosen Befristung schon viel gewonnen, würde sich die öffentliche Hand als Arbeitgeber an die Regeln halten und als Vorbild auftreten. Dies ist nicht der Fall, gerade öffentliche Arbeitgeber wie Schulen, Hochschulen und der Bundestag stechen vielfach negativ hervor und stellen überdurchschnittlich häufig nur befristet ein. Weitere gesetzliche Einschränkungen haben vor diesem Hintergrund eher Symbolcharakter.

Leistungsträger sind die Zahlmeister

Insgesamt gibt die Koalition mal wieder viel Geld aus, das die Steuerzahler, insbesondere diejenigen der Mittelschicht, aufbringen müssen. Eine echte Entlastung des Steuerzahlers kommt trotz sprudelnder Steuereinnahmen nicht infrage. Das ist gerade deshalb verwunderlich, weil die Sozialdemokraten dringend die Unterstützung der Bezieher mittlerer Einkommen nötig hätten – und diese wiederum die Unterstützung der Sozialdemokraten bräuchten. Auch die kalte Progression wird wieder nicht ernsthaft reduziert, der Solidaritätszuschlag für Menschen mit Einkommen ab 60.000 Euro – also nicht nur die wirklich Reichen im Lande – nicht gesenkt.

Damit sind die Leistungsträger der Gesellschaft – gemeint sind nicht die Topmanager, Schlagersternchen und Fußballspieler, sondern die Facharbeiter, Verwaltungsangestellten und Dienstleister vor Ort – wieder die Zahlmeister der sozial genannten, aber nicht treffsicheren Geschenke. Von diesen Leistungsträgern haben übrigens bei der letzten Wahl nicht wenige frustriert die sogenannte Alternative für Deutschland (AfD) gewählt. Echte Argumente, davon bei der nächsten Wahl Abstand zu nehmen, werden ihnen nicht geliefert.

Nur wenig Geld wird in Zukunftsinvestitionen fließen. Stattdessen werden vor allem die heutigen Rentner profitieren. Besonders eigentümlich wirkt es in diesem Zusammenhang, dass bis 2025 die Renten stabil bleiben sollen, die Rentenhöhe danach aber offen bleibt. Zufällig treten danach, das heißt in nicht einmal sieben Jahren, die Babyboomer in den Ruhestand. Eine Regierung mit Verantwortungsbewusstsein hätte einen langfristigen Plan entworfen, um die dann zu erwartenden Verteilungskonflikte vorsorglich zu entschärfen. Die Verbesserung der Pflegedienstleistungen wird sicherlich benötigt. Sie nachhaltig zu finanzieren, hätte mehr Sinn ergeben als Geld für die Rentenpakete auszugeben.

Was die Unternehmenssteuern angeht, darf die Sogwirkung der neuen US-amerikanischen Steuergesetzgebung nicht unterschätzt werden. Hier hätte die Koalition zumindest Handlungsbedarf anmelden sollen.

Fehlende politische Stategie – mit Absicht?

Insgesamt weist der Koalitionsvertrag eine Tendenz zur Überregulierung bei gleichzeitiger Missachtung der Bedeutung einer funktionierenden Marktwirtschaft auf. Offenbar hat man vor allem im Adenauer-Haus sämtliche Ambitionen aufgegeben, noch als Partei mit Wirtschaftskompetenz zu gelten. Ein Beispiel: Gelobt werden im Koalitionsvertrag kommunale Unternehmen, ganz so, als ob diese für Innovationen und produktive Arbeitsplätze stünden. Dabei kann nur eine langfristig funktionsfähige Marktwirtschaft mit Innovationskraft das gewünschte Niveau an Sozialleistungen finanzieren. Es bleibt nur der wohl nicht in Erfüllung gehende Wunsch, dass die Christdemokraten das Wirtschaftsministerium zu alter Stärke zurückführen und eine ordnungspolitische Orientierung anbieten.

Denn genau so eine Orientierung ist in Europa notwendig. Schon im Titel des Vertrages taucht Europa auf. Fest steht, dass die Europäische Union (EU) Impulse braucht. Allerdings ist offen, ob diese Impulse in mehr Geld aus deutschen Kassen für nachweislich nicht zielführende Strukturprogramme bestehen sollten. Genauso zweifelhaft, ob mehr solcher EU-Programme und eine weitere Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel („Brauchen wir mehr Europa?“) sinnvoll sind. Viele Menschen in Deutschland, aber auch anderswo sehen darin vermutlich keinen Aufbruch und fürchten eher um die Dynamik und den Zusammenhalt in Deutschland bzw. in ihren Heimatländern.

In diesem Zusammenhang geht es auch um die Personalien. Denn obwohl Martin Schulz, dessen europapolitische Kompetenz ebenso unbestritten ist wie seine Begeisterung für die Transferunion, nicht mehr Außenminister sein will, könnte auch der zukünftige Amtsinhaber versucht sein, die naiven sozialdemokratischen währungspolitischen Vorstellungen gegen jede ökonomische und politische Logik durchzusetzen. Dann liegt es am Finanzminister zu bremsen. Vielleicht ist es sogar ein Vorteil, dass der Finanzminister ebenfalls ein Sozialdemokrat ist, denn er kann vermutlich eher mäßigend auf den Außenminister einwirken als eine Ministerin von der Union. Herr Scholz gilt zudem als ein rationaler Politiker, der natürlich auch wissen wird, welcher Partei eine europolitische Geisterfahrt am meisten nützen würde.

Insgesamt kann der Koalitionsvertrag nicht überzeugen. Die Koalition wirkt jetzt schon verbraucht und müde – das Konfliktpotenzial ist hoch. Die politischen Ziele sind nicht hochgesteckt, kritische Probleme werden verdrängt. Es fehlt an einer politischen Strategie. Vielleicht ist dies ja Absicht, und die Koalition hat bewusst so geringe Ambitionen geäußert, um das Publikum in knapp vier Jahren positiv zu überraschen. Für Aufbruch, Dynamik und Zusammenhalt braucht es jedenfalls deutlich mehr!

Der Beitrag ist eine leicht überarbeitete Fassung des Artikels Kann eine Regierung noch weniger Ambitionen haben?“ aus der WirtschaftsWoche vom 9. Februar 2018.

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