Die ökonomische Bilanz Angela Merkels als Bundeskanzlerin sieht auf den ersten Blick gut aus. Das reale Bruttoinlandsprodukt ist seit 2005, dem Jahr ihres Amtsantritts, um gut 20 Prozent gestiegen. Zugleich nahm die Zahl der Erwerbstätigen um fast 5 Millionen zu, das war ein Anstieg um 12,5 Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich von damals 4,8 Millionen nahezu halbiert, die Arbeitslosenquote sank von 13 Prozent auf unter 6 Prozent. Sogar die Staatsverschuldung ist zurückgegangen und erfüllte mit 60,3 Prozent im vergangenen Jahr fast wieder die Vorgabe des Maastrichter Vertrages. Diese Bilanz scheint alle Lügen zu strafen, die Merkel wirtschaftspolitische Ignoranz vorwerfen.

Allerdings haben die Regierungen unter Merkel stark von Faktoren profitiert, zu denen sie selbst kaum beigetragen haben. So wurden die Schröder’schen Arbeitsmarktreformen eher wieder zurückgeschraubt. Zudem waren Wachstum und Exporte durch die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank quasi gedopt. Deren Langzeitfolgen für Altersvorsorge und Geldwertstabilität wird man erst nach Merkels Amtszeit wirklich abschätzen können. Auch ist die Staatsverschuldung deutlich höher als offiziell ausgewiesen: Zum einen wurden durch die jüngsten Rentenbeschlüsse neue, ungedeckte Zukunftslasten geschaffen. Zum anderen haftet Deutschland über die Kreditgewährung des Rettungsfonds ESM und der EZB inzwischen in erheblichem Ausmaß für die Schulden anderer EU-Länder mit.

Das problematischste Erbe der Ära Merkel ist jedoch die weitgehende Abkehr von marktwirtschaftlichen Prinzipien. Wettbewerb, Vertragsfreiheit und Eigenverantwortung sind zu Lippenbekenntnissen geworden. In der Praxis gilt dagegen nahezu überall der „Primat der Politik“: Wo die Marktergebnisse ihr nicht sozial, ökologisch oder innovativ vorkommen, wird entsprechend nachgeholfen, notfalls auch mit direkten Geboten und Verboten. So haben wir inzwischen staatliche Mindestlöhne, Mietpreisbremsen und Energieeinsparverordnungen, um nur die markantesten Beispiele für die Renaissance des staatlichen Interventionismus zu nennen. In der Umwelt- und Energiepolitik herrscht mehr Plan- als Marktwirtschaft, mit detaillierten und ständig schärfer werdenden Verbrauchs- und Emissionsgrenzen für jedes einzelne Produkt.

Wettbewerb, Vertragsfreiheit und Eigenverantwortung sind zu Lippenbekenntnissen geworden.

Dabei werden nicht nur die sehr unterschiedlichen Kosten der Einhaltung solcher Grenzen in den einzelnen Bereichen ignoriert. Auch die zulässigen Emissionen selbst – etwa von Feinstaub im Verkehr und am Arbeitsplatz – unterscheiden sich gravierend, sodass man auch andere als rein ökologische Ziele dahinter vermuten darf. Nicht weniger widersprüchlich und willkürlich geht es zu im Arbeits- und Steuerrecht. Die geplante Beibehaltung des Solidarzuschlags nur für Besserverdiener ist das aktuellste, aber nicht das einzige Beispiel. Wichtige ordnungspolitische Prinzipien wie Marktkonformität, Gleichheit vor dem Gesetz und ökonomische Handlungsfreiheit, auf denen Wirtschaft und Recht in der Nachkriegszeit ganz wesentlich beruhten, sind damit praktisch in ihr Gegenteil verkehrt worden.

Auch das Grundgesetz hat sich als wirkungsloser Schutz vor staatlicher Willkür erwiesen. Nicht nur wird es inzwischen in wichtigen Bereichen, wie der Geldpolitik, vom Europarecht dominiert. Es hat sich auch gezeigt, dass Begriffe wie Soziale Marktwirtschaft, Familie, Eigentumsschutz oder Nicht-Diskriminierung fast beliebig (um-)interpretiert und sogar in ihr Gegenteil verkehrt werden können. Dies gilt umso mehr, als sie zumeist durch Adjektive wie sozial oder andere Zusätze relativiert werden. Gleiches gilt für das Europarecht wie den Maastrichter Vertrag, dessen scheinbar eindeutige Vorschriften und Verbote sich am Ende allesamt als nicht justiziabel erwiesen haben.

Dies kam dem von Prinzipien weitgehend freien Pragmatismus Merkels sehr entgegen. Man könnte ihn auch als Opportunismus bezeichnen, denn meistens war es zugleich der Weg des geringsten politischen Widerstandes, etwa beim Ausstieg aus der Atomenergie, bei der Eurorettung und zumindest anfangs auch in der Flüchtlingspolitik. Politisch ist sie damit sehr erfolgreich gewesen, regiert sie doch fast so lang wie Adenauer.

Die ökonomischen Langzeitschäden aber sind schwerwiegend, nicht nur, was die unmittelbaren künftigen Kosten und Risiken betrifft. Merkel hat in ihrer Amtszeit nicht weniger als die deutsche Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit zerstört. Zunächst schleichend, zuletzt aber immer offener ist diese ersetzt worden durch ein neomerkantilistisches System, das man auch als Merkelantismus bezeichnen könnte. In ihrer Ära hat sich Deutschland – und zugleich die EU – von deutscher Ordnungspolitik immer weiter entfernt zugunsten französischer Planifications-Ideen, die seit der Blütezeit des Merkantilismus nie verschwunden sind.

Auch das Grundgesetz hat sich als wirkungsloser Schutz vor staatlicher Willkür erwiesen.

Man sollte nicht darauf setzen, dass die Langzeitfolgen des Merkelantismus marktwirtschaftlichen Lösungen automatisch wieder Auftrieb geben werden. Die modernen Interventionisten sind geschickt darin, ihre Fehler dem Markt anzulasten. So werden die steigenden Mieten den Vermietern in die Schuhe geschoben, obwohl der Staat daran den größten Anteil hat. Man kann eben nicht ständig die energetischen und baulichen Vorschriften verschärfen, die Wohnungs- und Stromabgaben in immer neue Höhen treiben und zugleich bezahlbare Mieten erwarten. Dies umso weniger, wenn millionenfache Zuwanderung die Wohnungsnachfrage erhöht, zugleich aber lange Genehmigungszeiten und fehlende Baulandausweisung das Angebot verknappen.

Die Mietpreisbremse führt in dieser Situation nur zu noch längeren Warteschlangen, ähnlich wie im regulierten Gesundheitswesen. Dort warten Patienten oft monatelang auf einen Termin, weil die gesetzlichen Kassen versuchen, die Arzteinkommen marktwidrig zu deckeln. Auch hier wird aber behauptet, der Wettbewerb sei schuld, und darum müssten die Privatversicherungen verboten werden. In Wirklichkeit würde die vollständige Sozialisierung des Systems ebenso wie im Wohnungsmarkt den Mangel für alle erst recht verschärfen, wie zahllose Beispiele aus dem Ausland belegen.

Solche Zusammenhänge sind in der Talkshow-Kultur der öffentlichen Debatte aber kaum noch zu vermitteln. Wer sie thematisiert, wird schnell als Marktradikaler, neoliberaler Unternehmerlobbyist oder Ökonom von gestern diffamiert. So bezeichnete Finanzminister Olaf Scholz kürzlich ein wohnungspolitisches Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsminsterium kurzerhand als „Quatsch“ und „großer Kokolores“. Auch in der Wissenschaft ist die Ordnungspolitik praktisch ausgestorben, es gibt dafür fast keine Lehrstühle, Fachzeitschriften oder Forschungsgelder mehr. Staatlich nachgefragt und bezahlt wird nur noch, was die politischen Interessen und Interventionen zu unterstützen verspricht. Wäre dies schon zu Ludwig Erhards Zeiten der Fall gewesen, so hätte es das deutsche Wirtschaftswunder wohl niemals gegeben. Der Merkelantismus kann darum auch als später Sieg des Sozialismus gesehen werden. Jedenfalls ist er das genaue Gegenteil von dem, was einst die Soziale Marktwirtschaft prägte und was ihren beispiellosen Erfolg ausgemacht hat.

Prof. Dr. Ulrich van Suntum lehrt Volkswirtschaft an der Universität Münster und ist Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

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