In der wirtschaftspolitischen Debatte wird Neoliberalismus zunehmend fälschlicherweise mit Marktradikalismus und Sozialstaatgegnerschaft in Verbindung gebracht. Diese häufig zur Diffamierung politisch Andersdenkender eingesetzte, stigmatisierende Sichtweise ignoriert die Entstehungsgeschichte und die gesellschaftlichen Auswirkungen neoliberalen Gedankenguts.

Gerade in einer Zeit, in der sich die Parteien der bürgerlichen Mitte in einer Kursbestimmung für künftige Herausforderungen befinden, ist es wichtig, zu einer Versachlichung der Diskussion beizutragen und daran zu erinnern, welche Rolle der Neoliberalismus bei der Herausbildung der Wirtschaftsordnung Deutschlands spielte. Er bereitete durch seine Kritik am Laissez-faire-Denken klassisch liberaler Auffassungen den Boden für die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft.

Neoliberale betonen aktive Wettbewerbspolitik

Erste Ansätze neoliberalen Denkens entstanden in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Auf dem Walter Lippmann Kolloquium, zu dem sich liberale Ökonomen aus verschiedenen Ländern im August 1938 in Paris versammelten, wies der deutsche, in die Türkei emigrierte Nationalökonom Alexander Rüstow darauf hin, dass es die Schwäche des Staates ist, seine Pflichten als „Polizist“ des Marktes zu verkennen und zu vernachlässigen, wodurch der Wettbewerb ausartet und einer schädlichen Entwicklung zu Monopolen Vorschub geleistet wird. Damit war bereits der Grundgedanke neoliberalen Denkens angesprochen: die Vermeidung von Wettbewerbsbeschränkungen zulasten von Mitbewerbern und Nachfragern durch aktive Wettbewerbspolitik.

Weiter entwickelt wurde dieser neoliberale Ansatz nach dem Zweiten Weltkrieg von der Freiburger Schule, die von dem Nationalökonomen Walter Eucken sowie den Wirtschaftsjuristen Hans Großmann-Doerth und Franz Böhm begründet wurde. Diese wegen ihrer Betonung des Wirtschaftsordnungsdenkens auch Ordoliberalismus genannte neoliberale Schule differenzierte den bereits von Rüstow angesprochenen Wettbewerbsgedanken. Nach Auffassung von Eucken führt eine zu weitgehende wirtschaftspolitische Abstinenz des Staates zu einer Vermachtung der Märkte und dauerhaften Abhängigkeit vieler. Das vom klassischen Liberalismus auf den Märkten propagierte völlig freie Wirken der Interessen garantiere noch keine produktive Gesamtordnung. Vielmehr suchten Anbieter und Nachfrager zu eigenem Nutzen, Konkurrenz zu vermeiden, Kartellvereinbarungen zu treffen und monopolistische Stellungen zu erwerben. Dies geschehe sowohl auf den Gütermärkten als auch auf den Arbeitsmärkten. Letzteres wird als eine der wesentlichen Ursachen der Notlage der Arbeitnehmer im 19. Jahrhundert erkannt. Staatlich gewährleisteter funktionsfähiger Wettbewerb hat nach Auffassung dieser Schule also auch eine soziale Funktion.

Insofern ist es konsequent, dass wesentliche Impulse für die Wettbewerbsordnung der Bundesrepublik von der Freiburger Schule stammen. Der erste Entwurf des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, auch plakativ „Grundgesetz der Marktwirtschaft“ genannt, wurde von Franz Böhm mit verfasst. Mit der Monopolkommission wurde im Rahmen dieses Gesetzes später ein mit Wissenschaftlern und Praktikern besetztes Gremium eingerichtet, das mit regelmäßig erstellten Haupt- und Sondergutachten sowie Empfehlungen für den Bundeswirtschaftsminister über die Einhaltung des Wettbewerbs wacht.

Marktwirtschaft mit wirksamen sozialen Sicherungen

Auf neoliberalem Gedankengut aufbauend wurde das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft in der Auseinandersetzung um die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland einzuführende Wirtschaftsordnung vorgestellt. Der Kölner Nationalökonom Alfred Müller-Armack, enger Mitarbeiter im Wirtschaftsministerium Ludwig Erhards, gilt als Schöpfer des Begriffs „Soziale Marktwirtschaft“. Er kennzeichnete diese Wirtschaftsordnungsvorstellung in einer 1947 hektographiert veröffentlichten Denkschrift mit dem Titel „Die Wirtschaftsordnung sozial gesehen“ als „Marktwirtschaft mit wirksamen sozialen Sicherungen“. Dieses Konzept, für das Erhard sich als Wirtschaftsminister und Bundeskanzler einsetzte, unterscheidet sich vom Neoliberalismus der Freiburger Schule somit durch stärkere Betonung sozialer Ziele und einer ausdrücklichen Wohlstandszielsetzung.

„Wohlstand für Alle“ ist auch der Titel des wohl bekanntesten Buchs von Ludwig Erhard, der erwartete, dass der Wohlstand bei gesicherter Teilhabe am Wirtschaftsleben, sozialer Absicherung und funktionierenden Arbeits- und Gütermärkten nachhaltig steigen würde. Private Initiative war für ihn die Grundvoraussetzung für diese Entwicklung, und so stellte er in Bezug auf das sogenannte „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit fest: „Es war die Konsequenz der ehrlichen Anstrengung eines ganzen Volkes, das nach freiheitlichen Prinzipien die Möglichkeit erhalten hat, menschliche Initiative, menschliche Energien wieder anwenden zu dürfen.“ Mit der Betonung von freiheitlichen Prinzipien und menschlicher Initiative wird die Verankerung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft in der liberalen Gesellschaftstheorie deutlich.

Kein Versorgungsstaat

Grundsätzlich gilt für die Rolle des Staates in der Sozialen Marktwirtschaft, dass – auch wenn die Verwirklichung der sozialen Komponente staatliche Transferleistungen erfordert – eine möglichst weitgehende Trennung von Staat und Wirtschaft gewährleistet werden soll, dass jedes staatliche – auch konjunktur- und strukturpolitische – Eingreifen gut zu begründen und immer wieder zu überprüfen ist. Es soll nicht zulasten bürgerlicher Freiheit und Initiative ein immer umfassenderer Versorgungsstaat aufgebaut werden. Ganz zentral ist dabei der Gedanke, dass wachsender Wohlstand die Chance für dann wieder weniger sozialstaatliche Regulierung und mehr Selbstvorsorge ist. Kurt Biedenkopf, erster Ministerpräsident des Freistaates Sachsen nach dessen Neugründung und zuvor als Wissenschaftler ein Kenner der Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards, hat dies einmal anlässlich einer Tagung der Ludwig-Erhard-Stiftung im Jahr 1984 einprägsam formuliert: „Für Erhard war der Gedanke unerträglich, dass mit wachsendem Wohlstand auch der Umfang staatlicher und kollektiver Vorsorge wachsen solle. Ihm wäre es richtig erschienen, als Antwort auf mehr Wohlstand auch mehr Raum für Selbstverantwortung zu gewähren.“

In diesem Zitat klingt bereits an, dass nach Ludwig Erhard die liberale Grundhaltung von der praktischen Wirtschafts- und Sozialpolitik, von einer Überprüfung des Sozialstaats in der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder abgesehen, nicht immer konsequent beachtet wurde. Bei einem gegenwärtig erreichten Anteil der Sozialausgaben des Bundes, der Länder und der Gemeinden von rund einer Billion Euro pro Jahr, was nahezu 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, widerspricht es nicht den Leitgedanken der Sozialen Marktwirtschaft, die Verteilung staatlicher Wohltaten zu überprüfen. Und Politiker, die dies anlässlich einer Neuorientierung ihrer Partei anstreben, sollten nicht mit dem falsch verstandenen Etikett „Neoliberale“ stigmatisiert werden.

Prof. Dr. Dietrich Schönwitz, Rektor der Hochschule der Deutschen Bundesbank i.R., war vormals wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Monopolkommission.

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