Zum Wesen von Mythen und Legenden gehört, dass sie von Zeit zu Zeit aufs Neue erzählt werden, um Zuhörer oder Leser zum Staunen und Schaudern zu bringen. Und so taucht alle Jahre wieder die Geschichte um und über Ludwig Erhard auf – wie Nessie in einem schottischen See.

Diesmal entstieg der Mythos der Wirtschaftswoche (WiWo) aus dem Hause Handelsblatt GmbH: „Ludwig Erhard. Das überschätzte Idol“ titelt die Redaktion auf dem Cover (Ausgabe 26/2017). Und: „Politiker preisen ihn im Wahlkampf als Vater des Wirtschaftswunders. Sieben Gründe, warum sie falschliegen“.

Schon die Titelseite wirft Fragen auf: Preisen Politiker Ludwig Erhard tatsächlich nur in Wahlkampfzeiten? Und preisen wirklich nur Politiker den „Dicken mit der Zigarre“? War da nicht mal ein WiWo-Titel mit Politikerköpfen in Erhard-Manier – also mit Zigarre? Zeigte das Magazin nicht im Jahr 2015 einen Erhard-Kopf à la Warhol, der „Haschisch für alle“ anpries? Und, und, und… Man scheint bei der WiWo also ein gewisses Faible für Ludwig Erhard entwickelt zu haben. Und weil das bisher eher wohlwollend geschah, sollte diesmal gezeigt werden: Wir können auch anders! Und schnell werden per Fotomontage aus dem – auch von der WiWo – geflochtenen Lorbeerkranz forsch ein paar Blättchen gerupft.

Ein Mythos, der sich aus Mythen speist

Während auf den Seiten 18 und 19 Erhard noch als „ein bisschen überschätzt“ beschrieben wird, versprechen die Autoren Bert Losse und Konrad Fischer für die Folgeseiten: „Selbst die großen Verdienste, die seinen Mythos begründen, halten einer genaueren Betrachtung nicht immer stand.“ Dann folgen aus Autorensicht diverse Mythen, die den Mythos speisen sollen, vom Mythos 1, „Erhard ist der Erfinder der sozialen Marktwirtschaft“ bis zu Mythos 7, „Erhard war ein erfolgreicher Politiker“. Das einzig Neue an der Auflistung ist scheinbar die Reihenfolge, denn Ähnliches „ploppt“ – mal mehr, meist weniger ernst zu nehmen – immer wieder einmal auf. Unklar bleibt im aktuellen „Plopp“, wer überhaupt den Mythos Erhard aufgebaut hat bzw. daran interessiert sein könnte, das zu tun. Ist tatsächlich jemand so naiv, dass er behauptet, allein Erhard habe das Wirtschaftswunder geschaffen?

1. Bei der Frage, ob es so etwas wie ein „Wirtschaftswunder“ gab, stützen sich die WiWo-Autoren auf den Historiker Werner Abelshauser, der seine Vorstellungen zur raschen Erholung der deutschen Nachkriegswirtschaft erstmals Mitte der 1970er Jahre vorgetragen hat. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die These, dass nach Kriegen oder anderen tief greifenden Störungen besondere Wachstumsbedingungen bestehen, die die Volkswirtschaft, die durch Katastrophen von ihrem „natürlichen Gleichgewichtspfad“ abgewichen ist, schnell wieder auf einen langfristig vorgegebenen Wachstumspfad zurückbringen. Für diese quasi vollautomatisch ablaufende Entwicklung hat Werner Abelshauser den Begriff „Rekonstruktionsprozess“ gewählt. In jüngeren Publikationen ist nachzulesen, dass die Kontroverse um methodische Konzepte zu den Ursachen des „Wirtschaftswunders“ bislang nicht zu einem eindeutigen Schluss geführt hat. Statistisch lässt sich Abelshausers These jedenfalls nicht halten. Die überraschend schnelle Erholung der Bundesrepublik dürfte mehrere Ursachen haben: die fundamentale Umstellung des Wirtschaftssystems auf die Marktwirtschaft; ein Industriepotenzial, das sich dank gut ausgebildetem Personal (unter anderem rund 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches) zügig aktivieren ließ; die schnellstmögliche Einbindung der deutschen Wirtschaft in die Weltwirtschaft; politische Erwägungen der Siegermächte (vom Marshallplan bis zum „Kalten Krieg“); und sicher noch das eine oder andere mehr, zum Beispiel die stabile Entwicklung der D-Mark.

2. Mit der „Währungsunion“ auf Seite 22 ist vermutlich die Währungsreform gemeint – geschenkt. Dass die WiWo-Autoren allerdings die Preisfreigabe mit der „Währungsunion“ verbinden, erstaunt dann doch. Immerhin dürfte allgemein bekannt sein, dass die Preisfreigabe bestimmter Produkte und Produktgruppen – ein Blick in die Anlage des zugrunde liegenden „Leitsätzegesetzes“ könnte helfen – Resultat der Wirtschaftsreform war. Ob ohne die von Erhard forcierte Wirtschaftsreform, ohne sein Beharren auf eine freiheitliche Organisation der Wirtschaftsordnung jene Kräfte freigesetzt worden wären, welche diese Freiheit nutzten und den Wiederaufstieg möglich machten? In Deutschland existiert der (zweifelhafte) „Glücksfall“, zwei unterschiedliche Wirtschaftsmodelle im direkten Vergleich betrachten zu können. Hätte die Bundesrepublik mit einem sozialistischen Wirtschaftssystem dieselbe Wirtschaftskraft entwickelt? Die Rückkehr auf modellierte „Wachstumspfade“ wäre in diesem Fall vermutlich anders verlaufen.

3. Dass andere europäische Staaten ebenso prosperierten, ist Beleg wofür? Inwieweit dokumentieren beispielsweise Wachstumsraten von 8,4 Prozent in Deutschland, 4,8 Prozent in Frankreich oder 6,4 Prozent in Italien irgendeine Form von Gleichmäßigkeit (Zahlen für den Zeitraum von 1949 bis 1954, UN Economic Commission for Europe)?

4. Die Situation in der Nachkriegszeit spielt scheinbar keine Rolle in den Betrachtungen der WiWo. Zerstörung der Verkehrsnetze, Rohstoffknappheit, Aufteilung in Besatzungszonen und damit Störung von Energie- und Produktionsverbünden haben die Wirtschaft massiv betroffen. Zusätzlich eine unbrauchbare Währung, Kompensations- und Tauschhandel, ausgebombte Städte, Wohnungsmangel, Schwarzmarkt, Hunger, Hamsterfahrten, mangelnde Arbeitsmoral, Preisstopp, vorgegebene Produktionspläne, Materialmangel und -verschwendung, die die wirtschaftliche Entwicklung bremsten – irrelevant? Und auf Knopfdruck dann das „Wirtschaftswunder“?

5. Überhaupt der Begriff „Wirtschaftswunder“ – Erhards Repliken auf den Wunderglauben lassen sich schnell und einfach finden: „Hat etwa das seichte Gerede vom deutschen Wunder in unseren Köpfen wirklich die mystische Vorstellung geweckt, dass wir zaubern könnten?“ Ihm war die naive Hoffnung auf Wunder suspekt: „Es hat wie ein Wunder angemutet, obwohl es wohldurchdachte Planung im besten Sinne des Wortes war.“ Oder etwas deutlicher und ausführlicher: „Was sich in Deutschland vollzogen hat, war alles andere als ein Wunder. Es war nur die Konsequenz der ehrlichen Anstrengung eines ganzen Volkes, das nach freiheitlichen Prinzipien die Möglichkeit erhalten hat, menschliche Initiative, menschliche Freiheit wieder anwenden zu dürfen.“

6. Apropos D-Mark und Erhards mythische Rolle als „Vater“ der neuen westdeutschen Währung: Am Ende des „Konklave von Rothwesten“ gaben die deutschen Wissenschaftler im Beraterstab der Alliierten zur anstehenden Währungsreform zu Protokoll: „Die drei Besatzungsmächte tragen für die Grundsätze und Methoden der Geldreform in ihren Zonen die alleinige Verantwortung.“

7. Auch wenn „Wohlstand für Alle“ – ab der 1. Auflage deutlich in der Titelei zu lesen: „Bearbeitet von Wolfram Langer“ – sicherlich kein „Handbuch der Sozialen Marktwirtschaft“ ist, könnte der Blick in das eine oder andere Kapitel nach wie vor erhellend sein. Immerhin hat mit Wolfram Langer ein erfahrener Handelsblatt-Journalist Erhards Gedanken, Reden und Schriften zu einem Kompendium über die ersten zehn Jahre Sozialer Marktwirtschaft verdichtet.

Wie man es dreht und wendet: Es bleiben nur diejenigen als Mythenerzähler, die andernfalls nichts zu erzählen hätten. Aber einen Mythos zu schaffen, um ihn (vermeintlich) zu zerstören – wie sinnvoll ist das denn?

Verwirrende Komplexität

Kleinere und größere Ärgerlichkeiten und schlichter Unfug seien zumindest noch kurz angerissen. Erhard war politisch erfolglos: Nun gut, er war von 1948 bis 1966 aktiv in Regierungsverantwortung, bis zu seinem Tod im Mai 1977 Abgeordneter des Deutschen Bundestages, 1957 gelang die erste (und einzige) absolute Mehrheit für die CDU/CSU, 1965 wurde sie nur knapp verfehlt – wenn so Erfolglosigkeit aussieht… Dass Konrad Adenauers eher paternalistischem Verständnis von Politik dank Ludwig Erhard ein weltoffenes Wettbewerbsdenken entgegengesetzt wurde… Dass Ludwig Erhard überzeugt war, dass der Einzelne weniger durch Gesetze als vielmehr durch Argumente und Einsichten dazu animiert werden kann, zu tun, was in seinem Interesse liegt…

Zugegeben, die Beschäftigung mit der Sozialen Marktwirtschaft ist mühsam, und der Interessierte stößt nicht zwangsläufig zu absoluten Wahrheiten vor. Das hängt eventuell mit der Vielschichtigkeit der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Konzeption zusammen. Bekenntnisse zur Freiheit, Vertrauen in Markteffizienz, die ordnungspolitische Ausrichtung staatlichen Tuns und die Überzeugung, dass nachträgliche Sozialpolitik immer nur Reparatur bedeutet, sind seit vielen Jahren unpopulär. In Theorie und Praxis gelten längerfristige politische Perspektiven als „uncool“. Stattdessen setzten die Verantwortlichen auf eine an schnellen Erfolgen orientierte Ad-hoc-Politik: Was gestern noch als vorbildhaft und tragend gepriesen wurde, kann schon morgen ohne Weiteres obsolet sein.

„Vielleicht tut die Erinnerung an die große Stimme der Aufbruchsjahre uns allen gut. Erhard hat uns noch immer viel zu sagen. Möge dieses Buch in stürmischer Zeit als Kompass dienen – und als Quelle einer nicht versiegen wollenden Inspiration.“ Gabor Steingart hat dieses im Dezember 2014 im Vorwort der Handelsblatt-Sonderausgabe des Klassikers „Wohlstand für Alle“ formuliert. Noch jemand, der dem Mythos aufgesessen ist.

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