Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes, beobachtet vor dem Hintergrund der Globalisierung und Digitalisierung neue Tendenzen zur Abschottung und Regionalisierung – nicht nur in Deutschland. Ausgerechnet in vielen wohlhabenden Staaten, die über Jahre und Jahrzehnte von ihrer starken Wettbewerbsfähigkeit profitiert haben, werde der Wettbewerbsgedanke mehr und mehr hintenangestellt. (Foto: © Bundeskartellamt)

Ein vollendeter Binnenmarkt in allen seinen Ausprägungen ist Europas größte Chance für Wachstum, Beschäftigung und Verbraucherwohlfahrt. Kombiniert mit einem effektiven europäischen und nationalen Ordnungsrahmen, der diskriminierungsfrei für alle Marktteilnehmer gilt und von unabhängigen, starken Wettbewerbsbehörden umgesetzt wird, kann eine wirksame Wettbewerbspolitik garantiert werden. Eigentlich ist das eine Binsenweisheit.

Aber die Arbeit des Bundeskartellamtes und anderer Wettbewerbsbehörden geschieht natürlich nicht in einem politischen Vakuum. Sie findet seit jeher im Umfeld und im Austausch mit der öffentlichen wie der privaten Hand statt und wird durch diese gelegentlich auch erschwert: Der teils dem kartellrechtlichen Vordenker Franz Böhm oder manchmal auch dem einstigen Kartellamtspräsidenten Kartte zugeschriebene Ausspruch „Der Wettbewerb hat keine Lobby“ macht das deutlich. Für private wie staatliche Unternehmen ist Wettbewerb oft anstrengend. Aus einer wettbewerbslosen Monopolstellung oder einem gesetzlich geschützten Rahmen heraus wirtschaftet es sich zweifelsohne leichter, als sich Tag für Tag mit anderen Unternehmen im Wettbewerb um Kosten, Preise, Qualität und Innovationen zu messen. Dennoch ist der derzeit zuweilen schwere Stand des freien Wettbewerbs in der wirtschaftspolitischen Debatte bemerkenswert.

Wettbewerbsthemen werden zwar heute oft stark in der Öffentlichkeit wahrgenommen, etwa wenn es aktuell um die Fusion von Fluggesellschaften geht oder die Macht von digitalen Großkonzernen diskutiert wird. Wettbewerbsthemen betreffen Verbraucher unmittelbar. Das machen Preisabsprachen bei Konsumgütern wie Bier, Wurst oder Zucker genauso deutlich wie die Geschäftspraktiken marktstarker digitaler Player von Google über Facebook bis hin zu Amazon. Hierdurch erhält nicht nur die Nähe zum Verbraucherschutz großes Gewicht, viele Themen haben auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Diese öffentliche Präsenz der wettbewerblichen Themen ist allerdings nicht unbedingt Zeichen einer hohen Wertschätzung. Denn Wettbewerb wird als Ausdruck einer liberalen Wirtschaftsordnung, die für den Verlust von Arbeitsplätzen, die Öffnung der Einkommensschere und die zunehmende Kluft zwischen Volk und Eliten verantwortlich gemacht wird, zunehmend kritisch gesehen.

Immer mehr Ausnahmen im Kartellrecht

Nicht nur in Deutschland, auch in anderen Ländern Europas oder in den USA sind solche Strömungen verbreitet. Die Globalisierung und Digitalisierung bedeuten härteren Wettbewerb und auch die Verschiebung von wirtschaftlicher Macht in andere Weltregionen. Ausgerechnet in vielen wohlhabenden Staaten, die über Jahre und Jahrzehnte von ihrer starken Wettbewerbsfähigkeit profitiert haben, wird der Wettbewerbsgedanke vor diesem Hintergrund mehr und mehr hintenangestellt. „America first“, der Brexit, die weitverbreitete Skepsis und harsche Kritik an internationalen Handelsabkommen wie TTIP und CETA – auf den verschiedensten Ebenen sehen wir eine neue Tendenz zur Abschottung und Regionalisierung.

Nachdem wir in Deutschland noch in den 1990er Jahren eine Welle von Privatisierungen gesehen haben, wird auch hierzulande seit einigen Jahren wieder vermehrt der Ruf nach dem Staat laut. Unternehmen in den Bereichen Wasser, Energie oder Entsorgung sollen rekommunalisiert werden. Eine aktivere Industriepolitik soll „nationale Champions“ aufbauen. Auch die politischen Diskussionen um das Kartellrecht als Werkzeug der Abschottung nehmen zu. Wir erleben das Tag für Tag.

Während das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) lange Zeit als „Grundgesetz“ unseres Wirtschaftssystems galt und sehr direkt eine echte Verpflichtung für freien Handel und freie Märkte in die deutsche Rechtsordnung einführte, sieht sich der Gesetzgeber heute zunehmend mit Forderungen konfrontiert, bestimmte Wirtschaftsbereiche vom Kartellrecht auszunehmen. Neben den bereits vorhandenen Sonderregelungen wurden in der jüngsten Kartellrechtsnovelle im Juni 2017 weitere Ausnahmeregelungen eingeführt. Es fällt auf, dass häufig staatsnahe, teilregulierte Branchen oder Branchen, an denen die öffentliche Hand beteiligt ist, besonders laut rufen – und damit auch Erfolg haben. So wie die gesetzlichen Krankenkassen, als sie sich über Zusatzbeiträge abstimmten, die kommunalen Wasserversorger, die sich erfolgreich einer kartellrechtlichen Gebührenkontrolle entzogen haben, die Sparkassen, die im GWB eine kartellrechtliche Freistellung für die Kooperation bei Backoffice-Leistungen durchgesetzt haben, oder die Forstverwaltungen, für die wegen eines Verfahrens des Bundeskartellamtes das Bundeswaldgesetz geändert wurde. Darüber hinaus dürfen fortan Zeitungs- und Zeitschriftenverlage – um sich gegen die Konkurrenz aus dem Internet zu erwehren – weitreichende Absprachen treffen. Die Liste wird immer länger.

Ein weiteres konkretes Beispiel: Im Rundfunkbereich bahnen sich erneut Diskussionen um kartellrechtliche Sonderregeln an. Hier wünschen sich die öffentlich-rechtlichen Sender eine rechtliche Absicherung für Kooperationen. Aus unserer Sicht gibt es dafür keinen Bedarf, da den Sendern im hoheitlichen Bereich ohnehin große Freiheiten zustehen. Dort, wo sie kommerziell tätig sind, also zum Beispiel bei der Werbung oder der Rechteverwertung, muss es auch dabei bleiben, dass die Sender dem Kartellrecht unterliegen, wie jedes andere Wirtschaftsunternehmen auch.

Wer erwartet hat, dass mit der auf den letzten Metern der vergangenen Legislaturperiode verabschiedeten 9. GWB-Novelle Ruhe an dieser Front einkehren würde, wird eines Besseren belehrt werden. Es ist absehbar, dass vor allem das „Schreckgespenst Digitalisierung“ auch in der neuen Legislaturperiode dafür wird herhalten müssen, für die sogenannten traditionellen Industrien weitreichende Ausnahmen vom Kartellrecht zu fordern.

Eine „neue Art von Monopolisten“ auf digitalen Märkten?

Dabei sind die zunehmenden Forderungen nach mehr staatlicher Einflussnahme und mehr Ausnahmeregelungen vom Kartellrecht nicht gut für Wirtschaft und Verbraucher. Natürlich haben viele Branchen mit neuer Konkurrenz aus anderen Ländern und dem Internet zu kämpfen. Doch dies kann auch Motor für eigene neue (Geschäfts-)Ideen sein. Das Kartellrecht bietet für Kooperationen vielfältige Freistellungsmöglichkeiten, soweit die Beteiligten echte Effizienzen für Unternehmen und Verbraucher heben wollen. Hingegen machen Möglichkeiten zu Absprachen und Abschottung gegenüber Verbrauchern und Wettbewerbern noch lange nicht fit für die Herausforderungen der Globalisierung und Digitalisierung. Im Gegenteil.

Auch rechtlich abgesicherte „Wettbewerbsferien“ können die Zeit nicht anhalten – Gott sei Dank. Die technische Entwicklung schreitet voran, mit oder ohne uns. Die Exportnation Deutschland kann auf den internationalen Märkten nur bestehen, wenn sie wettbewerbsfähige Produkte anbietet. Nur wenn die Unternehmen hierzulande einem freien und fairen Wettbewerb ausgesetzt sind, können sie sich auch auf den Weltmärkten behaupten.

Langfristig werden sich international die erfolgreichsten Innovationen durchsetzen. Egal ob es um die Industrie 4.0 – also eine vernetzte Produktion – oder um die Zukunft der Mobilität geht, wir müssen aufpassen, dass Deutschland nicht den Anschluss verliert. Fairer Wettbewerb und offene Märkte bleiben der wesentliche Antrieb für Innovationen und hohe Produktqualität. Anstatt dass der Staat für einzelne Unternehmen oder Branchen durch Ausnahmen vom Kartellrecht und anderen Sonderregeln den Besitzstand zu wahren versucht, sollte er besser durch kluge wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen oder durch Förderung der Grundlagenforschung Innovationen fördern. Regulierende Maßnahmen können in verschiedenen Branchen vor dem Hintergrund von etwa umwelt-, sozial- oder fiskalpolitischen Erwägungen als ergänzende Stütze des wettbewerblichen Rahmens sehr sinnvoll sein. Die richtige Balance und die richtige Rollenverteilung sind das Entscheidende.

Erstaunlicherweise wird der Wettbewerbsgedanke in jüngster Zeit aber nicht nur im politischen Raum oder in Branchen, die mit strukturellen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, kritisiert. Auch aus der Boom-Branche unserer Tage, der Internetwirtschaft, verlautbaren Töne wie „Competition is for losers“. So meint es beispielsweise Peter Thiel, Mitbegründer von Paypal und ein früher Investor bei Facebook. Diesen Managern aus dem Silicon Valley schwebt ein Paradigmenwechsel in der Wettbewerbspolitik vor. Danach brauchen wir das Wettbewerbsrecht angesichts all der guten Unternehmen, die unser Leben im besten Sinne steuern, gar nicht mehr. Sie betrachten Wettbewerb in der digitalen Wirtschaft als schädlich. Monopolisten wie Google, die sich keine Sorgen um den Wettbewerb machen müssten, hätten Zeit, sich um Mitarbeiter, Produkte und andere Dinge als Geldverdienen Gedanken zu machen. Sie stellten eine „neue Art von Monopolisten“ auf digitalen Märkten dar. In dieser schönen neuen Welt sind diese Unternehmen die Guten, die Innovation kommt von selbst, und für den Verbraucher ist alles umsonst.

Einer Wirklichkeitsbetrachtung hält das nicht stand. Wettbewerb ist der zentrale Innovationsförderer. Am deutlichsten wird die innovationsfördernde Wirkung von Wettbewerb dort, wo er fehlt. Ein Beispiel ist die marktbeherrschende Stellung von Microsoft im Bereich der Internetbrowser zu Beginn der 2000er Jahre. Microsoft integrierte den Internet-Explorer in Windows und drängte die Wettbewerber so an die Wand. Da nach dem Verschwinden von Netscape zeitweise praktisch kein relevanter Wettbewerber mehr existierte, konnte sich Microsoft zurücklehnen. Geschlagene fünf Jahre wurde der Internet-Explorer nicht weiterentwickelt. Fünf Jahre Stillstand in einem der innovativsten Wirtschaftsbereiche unserer Zeit.

Nur offene Märkte dienen dem Verbraucher

Dies zeigt: Innovationen gehen auch und gerade in Zeiten der sich immer weiter verstärkenden Digitalisierung nicht von bequem gewordenen Monopolisten aus. Sie gehen aber auch nicht von staatlicher Industriepolitik aus, wie es einige Politiker und namhafte Wissenschaftler meinen. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger hatte kürzlich einen entsprechenden Artikel veröffentlicht, der für viel Aufsehen sorgte.

Nein, Innovationen entstehen durch Wettbewerb, auch von Start-ups, die mit neuen Unternehmensideen etablierte Konzerne unter Druck setzen. Beispiel WhatsApp: Der Messaging-Dienst begann als Start-up und hat in den letzten Jahren die mobile Kommunikation in Deutschland und der Welt radikal verändert. So haben WhatsApp und andere Messaging-Dienste die SMS als prägenden Telekommunikationsdienst zur Übertragung von Textnachrichten nahezu vollkommen abgelöst. Der Grund, warum sich erfolgreiche Start-ups in der Vergangenheit eher in den Vereinigten Staaten und nicht in Deutschland oder der EU angesiedelt haben, wird kaum an einem Mangel an Regulierung und staatlichen Vorgaben liegen.

Dass sich der ordnungspolitische Rahmen an die digitale Wirtschaft von heute anpassen muss, steht außer Frage. Hier hat der Gesetzgeber auch bereits reagiert, im Rahmen der jüngsten Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen wurde das Wettbewerbsrecht an die zunehmende Digitalisierung der Märkte angepasst. Wir werden unsere Verfahren schneller und effizienter führen können, etwa weil der Begriff Marktmacht an die Bedingungen des Internetzeitalters angepasst und gesetzlich klargestellt wurde, dass hierbei auch Faktoren wie Netzwerkeffekte oder Nutzerdaten eine Rolle spielen. Und wir denken noch weiter: Können wir unsere Ermittlungstechniken weiter optimieren? Wie können wir dynamische Effekte besser in unsere Analysen, Prognosen und Instrumente integrieren? Wann sollten wir intervenieren, wann eher nicht? Gerade in der Diskussion um eine Unterlegenheit von Wettbewerbern und Verbrauchern gegenüber den großen Anbietern der digitalen Wirtschaft müssen wir kritisch prüfen, ob die Missbrauchstatbestände, die vor allem am Konzept der Marktbeherrschung anknüpfen, ausreichend sind. Sicherlich müssen darüber hinaus jenseits des Kartellrechts weitere gesetzliche Maßnahmen für bestimmte Einzelbereiche wie etwa den Datenschutz und das internationale Steuerrecht diskutiert werden.

Die Reform des GWB stellt sicher, dass das Kartellrecht auch zukünftig klare Grenzen aufweist, wenn innovative Start-ups von Platzhirschen aufgekauft werden oder sich marktbeherrschende Unternehmen mit missbräuchlichen Praktiken gegen Newcomer wehren wollen und Marktversagen droht. Nur in Märkten, die angreifbar bleiben, können die Verbraucher vor überhöhten Preisen und unangemessenen Konditionen geschützt werden sowie von hochwertigen Produkten, neuen Ideen und Dienstleistungen profitieren. Die Aufgabe der Wettbewerbsbehörden kann es nicht sein, jeder neuen Idee einen Bestandsschutz zu garantieren, andererseits müssen sie sicherstellen, dass innovative Newcomer oder kleine Wettbewerber die Chance haben, sich am Markt durchzusetzen. Das ist in der Praxis häufig eine schwierige Gratwanderung. Dennoch haben die Wettbewerbsbehörden bereits in zahlreichen Verfahren gezeigt, dass sie auch mit den neuen ökonomischen Phänomenen und juristischen Fragestellungen der Digitalwirtschaft umgehen können. Ein prominentes Beispiel sind die Google-Verfahren der Europäischen Kommission. Das Bundeskartellamt hat erfolgreich Verfahren gegen Amazon, Buchungsportale, Apple und viele andere Internetunternehmen geführt und ermittelt derzeit gegen Facebook im Zusammenhang mit der Datenerfassung und Datenverwendung des Unternehmens.

Ob Digitalwirtschaft oder national Champions – gerade vor dem Hintergrund der rasenden Digitalisierung und Globalisierung wird es Versuchen, durch Ausnahmeregelungen nationale Player zu stärken, wie der sprichwörtlichen Butter in der Sonne ergehen. Mehr Wettbewerb wagen. Dieser Appell an die Politik ist heute aktueller denn je.

Andreas Mundt ist Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung. Der Beitrag ist zuerst im ifo Schnelldienst 20/2017 erschienen.

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