Dietrich Schönwitz, Rektor der Hochschule der Deutschen Bundesbank i.R. und seit Dekaden Autor für die Ludwig-Erhard-Stiftung, widerspricht im folgenden Beitrag Darstellungen, in denen Ludwig Erhard „mangelnde Fachkenntnis“ attestiert wird. Stattdessen legt er Erhards „klare und durchdachte Vorstellungen von einer sozialen Ordnungspolitik“ dar, die jedoch nach Erhards Rücktritt 1966 politisch nicht mehr umgesetzt wurden.

In einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus dem Jahr 1986 fällte Ernst Günter Vetter das Urteil „Erhard war sicher ein engagierter Marktwirtschaftler; aber er gehörte wohl kaum (…) zu den großen Theoretikern einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung.“ Dieser Diktion treu bleibend verweist Albrecht Ritschl mehr als drei Jahrzehnte später ebenfalls in der FAZ aus Anlass des 125. Geburtstags von Ludwig Erhard unkommentiert auf Biographien, die dem ehemaligen Wirtschaftsminister und Bundeskanzler „mangelnde Fachkenntnis“ attestieren. Weil derartige Fehlurteile sich offensichtlich dauerhaft halten, soll gezeigt werden, dass Erhard klare und durchdachte Vorstellungen von einer sozialen Ordnungspolitik hatte und theoretisch fundiert den ersten Entwurf für eine Soziale Marktwirtschaft, den Alfred Müller-Armack 1947 in seiner Denkschrift „Die Wirtschaftsordnung sozial gesehen“ vorlegte, weiterentwickelte sowie daraus die Grundlinien für die konkrete politische Umsetzung entwickelte. Müller-Armack definierte „Soziale Marktwirtschaft“ – wie bei Wolfgang Stützel nachzulesen ist – als Marktwirtschaft „…die mit wirksamen sozialen Sicherungen versehen wird.“

Ganzheitliche Ordnungsgestaltung

Marktwirtschaft und damit strikte marktwirtschaftliche Orientierung bei der Ordnungsgestaltung bedeutete für Erhard, dass sein Ordnungsentwurf nicht auf eine – wie man später systemtheoretisch formuliert hätte – „mixed economy“ hinauslaufen sollte, in der marktwirtschaftliche Koordinierung und staatliche Planung eine prägende Mischung darstellen. Für die soziale Komponente folgt daraus, dass Erhard, wie sein früherer wissenschaftlicher Mitarbeiter Horst Friedrich Wünsche betont, eine ganzheitliche Gestaltung der Wirtschaftsordnung anstrebte und nicht eine Dualisierung in Marktwirtschaft und sozialpolitischen Korrekturbereich, der nach anderen Prinzipien als die eigentliche Wirtschaftsordnung organisiert ist. Kurt Biedenkopf, ein guter Kenner der Wirtschaftspolitik Erhards, hat in den Schriften Erhards als Beleg für das ganzheitliche Ordnungsdenken die programmatische Aussage gefunden, dass „…die persönliche Freiheit letztlich unteilbar ist. Denn eine freiheitliche Wirtschaftsordnung kann eben nur bestehen, wenn auch im sozialen Sektor ein Höchstmaß an Freiheit, privater Initiative und Selbsthilfe gewährleistet wird.“

Vorrang des Subsidiaritätsprinzips

Es ging Erhard somit um eine seinem marktwirtschaftlichen Denken entsprechende Ausgestaltung der Sozialpolitik. Das Subsidiaritätsprinzip ist demzufolge für ihn zentrales Ordnungsprinzip des sozialen Schutzes, der Einrichtung eines Grundstocks an Sicherungseinrichtungen, die gesellschaftlich Schwache im Falle von Notlagen vor einem Absinken in „unmenschliche Lebenslagen“ bewahren. Gemäß diesem Prinzip widerspricht es der marktwirtschaftlichen Ordnung, die private Initiative bei der Vorsorge für die Wechselfälle des Lebens auch dann auszuschalten, wenn der Einzelne fähig ist, selbstverantwortlich und eigenständig vorzusorgen. Dem Staat kommt institutionell primär die Aufgabe zu, gleichsam – wie Christoph Heusgen herausgearbeitet hat – als „Aufbau-Organisator“ die Rahmenbedingungen für die Durchführung des sozialen Schutzes in Solidargemeinschaften außerhalb der staatlichen Haushalte zu schaffen. Staatliche Maßnahmen in Ergänzung zu dieser Organisation des Sozialen sind demzufolge unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips zu begründen.

Mehr Wohlstand ermöglicht weniger kollektive Vorsorge

Ergänzt wird dieser aufbauorganisatorische Aspekt des Sozialen durch Überlegungen zur Entwicklung des sozialen Sektors im Zuge der Wohlstandsmehrung. Mehr Wohlstand im Verlauf der marktwirtschaftlichen Entwicklung soll es ermöglichen, die Kräfte der privaten Selbstorganisation zunehmend freizusetzen. Biedenkopf hat dies pointiert wie folgt formuliert: „Für Ludwig Erhard war deshalb der Gedanke unerträglich, dass mit wachsendem Wohlstand auch der Umfang staatlicher und kollektiver Vorsorge wachsen sollte. Beispiel für diese, wie er es sah […], Fehlentwicklung war ihm die Rentenreform 1972. Die Ausweitung der Rentenleistungen wurde damals mit einer erwarteten hohen Wohlstandsmehrung begründet. […] Ihm wäre es ordnungspolitisch richtig erschienen als Antwort auf mehr Wohlstand auch mehr Raum für Selbstverantwortung zu gewähren.“ Bekannt ist auch, dass Erhard der Einführung einer umlagefinanzierten Rentenversicherung kritisch gegenüberstand. Hätte er sich damals gegen das Argument „Kinder kriegen die Leute immer“ durchsetzen können, müsste man heute angesichts demographischer Entwicklungen nicht über die Einführung einer die private Vorsorge betonenden Kapitaldeckung bei der Rentenversicherung diskutieren.

Grundgesetz der Sozialen Marktwirtschaft

Im ganzheitlichen Ansatz Erhards soll wirksame soziale Sicherung nicht nur durch Maßnahmen der Sozialpolitik erreicht werden, sondern auch durch eine Wohlstand gewährleistende marktwirtschaftliche Ordnung. In dieser Sichtweise war für ihn funktionsfähiger Wettbewerb grundlegender Baustein einer Sozialen Marktwirtschaft. Er selbst bezeichnete das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) als „Grundgesetz der Sozialen Marktwirtschaft“. Für ihn waren Wettbewerb und die soziale Funktion des Verbraucherschutzes eng miteinander verknüpft. In seinem Buch „Wohlstand für Alle“ schrieb Erhard, worauf auch der Präsident des Bundeskartellamtes, Andreas Mundt, hinweist: „Nicht der Staat hat darüber zu entscheiden, wer am Markt obsiegen soll, aber auch nicht eine unternehmerische Organisation wie ein Kartell, sondern ausschließlich der Verbraucher.“ Diese Feststellung ist darin begründet, dass die deutsche Wirtschaft traditionell von Kartellen geprägt war. Deshalb war dem Inkrafttreten des GWB mit seinem Kartellverbot am 1. Januar 1958 eine langwierige Auseinandersetzung vor allem mit Verbänden der Wirtschaft vorausgegangen. Es fehlte noch eine wirksame Fusionskontrolle, die erst mit der 2. GWB Novelle im Jahr 1973 und damit nach der Amtszeit Erhards kam. Er hatte jedoch mit seinen wettbewerbstheoretischen Überlegungen dafür den Grundstein gelegt.

Geldwertstabilität fördert private Initiativen

Die grundlegende Bedeutung, die Erhard neben funktionsfähigem Wettbewerb der Verwirklichung einer die Geldwertstabilität sichernden Notenbankverfassung – und damit der Unabhängigkeit der Notenbank von politischen Weisungen – als prägendes Element seiner Sozialen Marktwirtschaft beimaß, fügt sich in den ganzheitlichen Ansatz des Sozialen. Geldwertstabilität ist nicht nur wichtige Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren der Marktwirtschaft und damit für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung. Inflation beeinträchtigt zudem wirksame soziale Sicherung, indem zum einen aller Erfahrung nach gerade die wirtschaftlich Schwachen, die Unerfahrenen, die ärmeren Schichten in ihrem Konsumbudget betroffen werden. Zum anderen werden Sparer benachteiligt, die als Hauptmotiv der Geldvermögensbildung Notfallvorsorge, Altersvorsorge und allgemein mehr Sicherheit anstreben. Sparen ist deshalb im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als Motivation zu werten, in Eigeninitiative staatliche und kollektive soziale Sicherung durch private soziale Sicherung zu ergänzen. Weil Politiker den Zugriff auf die Notenbank als Geldquelle schätzen, war auch die Unabhängigkeit der Notenbank ein Streitpunkt und konnte erst 1957 im Bundesbankgesetz verankert werden.

Orientierung an Ludwig Erhard?

Wie schon in der zuvor zitierten Stellungnahme von Biedenkopf angeklungen ist, ist die Entwicklung der Wirtschaftsordnung nicht den Weg gegangen, den Ludwig Erhard mit seiner Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft nachvollziehbar vorgezeichnet hat. Deutlich wird das in der Steigerung der Sozialleistungsquote als Anteil aller Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt seit seinem Rücktritt im Jahr 1966 von rund 20 Prozent auf rund 34 Prozent im Jahr 2021. Wachsender Wohlstand hat also nicht, wie er es anstrebte, zu weniger staatlichen und kollektiven Sozialleistungen geführt. Die Gründe hierfür sind vielfältig und würden den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Festzuhalten ist aber, dass die Verteilung der Sozialleistungen nach politischen Präferenzen und gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten trotz wirtschaftlichem Wachstum ungleichgewichtig war und noch ist. Dafür ein Beispiel: Erhard war den Menschen zugewandt und es wäre für ihn wohl nicht zu rechtfertigen gewesen, dass in einer Sozialen Marktwirtschaft gemäß einer Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2020 ein Fünftel, das sind 2,8 Millionen, der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren von Armut bedroht sind.

Literatur

Bertelsmann Stiftung: Kinderarmut: Eine unbearbeitete Großbaustelle, bertelsmann-stiftung.de, 2020.

Biedenkopf, Kurt: Ludwig Erhard und die politischen Parteien, in: Ludwig Erhard und seine Politik, hg. von Ludwig-Erhard-Stiftung, Stuttgart/New York 1985.

Erhard, Ludwig: Wohlstand für Alle, Düsseldorf/Wien 1957.

Erhard, Ludwig: Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg der Sozialen Marktwirtschaft, Düsseldorf/Wien 1962.

Heusgen, Christoph: Ludwig Erhards Lehre von der Sozialen Marktwirtschaft, Stuttgart/ Bern 1981.

Mundt, Andreas: Vorwort – 60 Jahre Bundeskartellamt 1958 –2008, bundeskartellamt.de, 2008.

Ritschl, Albrecht: Vom Lausbub zum Bundeskanzler. Was bleibt von Ludwig Erhard und der Sozialen Marktwirtschaft, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Februar 2022.

Schönwitz, Dietrich: Monetäre Stabilität und Notenbankverfassung – sozial gesehen, in: Soziale Ausgestaltung der Marktwirtschaft, hg. von Gerhard Kleinhenz, Berlin 1995.

Stützel, Wolfgang u.a. (Hg.): Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft. Zeugnisse aus zweihundert Jahren ordnungspolitischer Diskussion, Stuttgart/New York 1981.

Vetter, Ernst Günter: Ludwig Erhard und die Marktwirtschaft, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Dezember 1986.

Wünsche, Horst Friedrich: Ludwig Erhards Gesellschafts- und Wirtschaftskonzeption. Soziale Marktwirtschaft als Politische Ökonomie, Stuttgart 1986.


Prof. Dr. Dietrich Schönwitz ist Rektor der Hochschule der Deutschen Bundesbank im Ruhestand.

DRUCKEN
DRUCKEN