Dem „Vater“ des Wirtschaftswunders wird völkisches Gedankengut vorgeworfen. Es ist ein Versuch, die liberale Ordnung zu diskreditieren.

Am 23. September erschien in der Berliner „tageszeitung“ (taz) ein umfangreicher Artikel über Ludwig Erhard mit dem Titel „Ein Profiteur der Nazis“. Die taz-Redakteurin Ulrike Herrmann behauptet darin, dass Erhards Wirken während der Nazi-Herrschaft bis heute tatkräftig verschwiegen würde. Als Wissenschaftler sei er gescheitert, weil er seine Habilitationsschrift nicht vollendete, und als Geschäftsführer des Nürnberger Instituts für Wirtschaftsbeobachtung sei er bestens über die Judenverfolgung informiert gewesen. Er habe davon profitieren wollen, indem er Gutachten einwarb.

Erhard habe in völkischen Kategorien gedacht, und es sei für ihn fraglos klar gewesen, dass Polen keine Rechte besäßen und den Deutschen zu dienen hätten. Er hätte kein Problem darin gesehen, fremdes Leid auszuschlachten. Mit der Währungsreform von 1948 habe er nichts zu tun gehabt, und die von ihm durchgeführte Freigabe der Preise habe zu starker Inflation geführt, die vor allem Arme getroffen habe. Nach der Lektüre dieses Artikels reibt man sich verwundert die Augen und fragt sich, ob nun alle nach Ludwig Erhard benannten Straßen, Festsäle und Schulen umbenannt werden müssen.

Was die Forschung sagt

Historiker geben Entwarnung. Sie weisen darauf hin, dass sich die Autorin auf in den neunziger Jahren erschienene Biographien stützt und die dort dokumentierten Fakten auf ihre Weise interpretiert. Der an der London School of Economics and Political Science lehrende Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl urteilt: „Hat Erhard für NS-Stellen gearbeitet? Ja. Hat er sich dabei ideologisch hervorgetan? Die Forschung hat eher den gegenteiligen Eindruck gewonnen.“ In seiner im Krieg verfassten Denkschrift über die Beseitigung des Schuldenüberhangs nach einem verlorenen Krieg skizzierte Erhard einen Schuldenschnitt im Zug einer Währungsreform. Die von der amerikanischen Regierung beauftragten Experten für die Durchführung der Währungsreform im Jahr 1948 kannten diesen Plan. Nach der von Erhard verfügten Freigabe der Preise stieg die Inflation tatsächlich zunächst an, schwächte sich im Laufe von 1949 aber wieder ab.

Wenn das alles schon gut erforscht und die von einzelnen Autoren erhobenen irreführenden Anschuldigungen bekannt sind, stellt sich die Frage, warum die taz nun Erhard als Freund und Profiteur der Nazis darstellt. Möglich ist, dass man mit schockierenden „Fake News“ einfach die Auflage stärken will. Zu einer Zeitung, die aus dem „Tunix-Kongress“ 1978 als Projekt einer „neuen linken Tageszeitung“ hervorging, passt dies jedoch nicht.

Wahrscheinlicher ist, dass die Autorin und die sie beschäftigende Zeitung die Erzählung des Liberalismus schädigen wollen, indem sie das liberale Idol Ludwig Erhard in die Nazi-Ecke stellen. Für konstruktivistische Gesellschaftstheoretiker war die Idee, dass die Gesellschaftsordnung der Freiheit des Einzelnen dienen und nicht nach ihren Vorstellungen geformt sein soll, schon immer ein Dorn im Auge. Die russischen Bolschewisten wollten in einer von ihnen geführten Diktatur des Proletariats den Menschen eine klassenlose Gesellschaft aufzwingen. Dies führte zu unermesslichem Leid und schließlich zum Bankrott des real existierenden Sozialismus. Kürzer, aber ähnlich leidvoll verlief die Umsetzung faschistischer und nationalsozialistischer Gesellschaftstheorien. Immer wieder brach der Drang nach Freiheit und Wohlstand durch, den nur eine freiheitlich organisierte Gesellschaft befriedigen kann.

Angriff auf die liberale Ordnung

Seit der Finanzkrise von 2008 haben sich nun linke und ökologische Gesellschaftstheoretiker zu einem neuen Angriff auf die liberale Ordnung verbündet. Der „Neoliberalismus“ wird für die Krise verantwortlich gemacht, obwohl es die Instrumentalisierung der Geldschöpfung durch Kreditvergabe für politische Zwecke war, die zu Schuldenboom und -bust geführt hat. Und die mit der liberalen Ordnung einhergehende kapitalistische Wirtschaftsweise wird als Bedrohung der Lebensgrundlagen der Menschheit erklärt, obwohl diese Wirtschaftsweise die Existenz der meisten heute lebenden Menschen überhaupt erst ermöglicht hat. Links-grüne Theoretiker und politische Aktivisten kämpfen gegen die liberale Erzählung, weil sie den Menschen ihre Lebensziele aufdrängen wollen, statt sie ihre eigenen Ziele verfolgen zu lassen.

Die verbliebenen geistigen Erben Ludwig Erhards in CDU und FDP lassen sich von den konstruktivistischen Gesellschaftspolitikern kleinlaut in die Ecke drängen. Sie scheuen die Konfrontation, obwohl sie wissen, dass die von diesen Aktivisten geforderte Politik zu Verlust an Freiheit und Wohlstand führt. Es ist höchste Zeit, die Erzählung von der Freiheit offensiv zu verbreiten.

Prof. Dr. Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute und Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Er ist Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung und Vorsitzender der Jury des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik.

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