Boris Palmer warnt vor negativen Effekten, wenn der Ausrufung eines Klimanotstands keine Taten folgen. Deshalb hat sich Tübingen gegen die Ausrufung des Notstands und für ein ehrgeiziges Klimaschutzprogramm entschieden.

Was ein Notstand ist, erlebten wir alle ziemlich unvorbereitet am eigenen Leib, als es im Zuge des Corona-Shutdowns plötzlich verboten war, Freunde und Verwandte zu besuchen, eine Unternehmung zu betreiben oder ins Theater zu gehen. Von einem wirklichen Notstand haben aber immer noch nur die wenigsten von uns eine Vorstellung.

Wenn Kommunen vor diesem Hintergrund den Klimanotstand ausrufen, so gibt es zwei Möglichkeiten: Die Folgen der Erderwärmung für die Menschheit sind so ernst einzustufen, dass sie den Ausnahmezustand in derselben Weise rechtfertigen wie die Bekämpfung des Coronavirus. Oder es handelt sich nur um Rhetorik, um Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Ganz sachlich betrachtet, spricht viel für die These, dass der Klimanotstand mindestens so gravierend wie der Corona-Notstand ist. Eine Impfung gegen die Klimakrise wird es allerdings nicht geben. Und auch der Schaden an Leib und Leben wie auch an Vermögen wird durch die Erderwärmung ungleich größer sein als durch Corona. Es spricht also nichts gegen die Ausrufung des Klimanotstands – außer den fehlenden Konsequenzen.

Wer einen Notstand ausruft, der muss auch entsprechend handeln. Dann werden selbst Grundrechte einem großen Ziel untergeordnet, wie wir es mit Corona erlebt haben. Mir ist aber keine Kommune bekannt, die nach der Ausrufung des Klimanotstands irgendwelche Maßnahmen ergriffen hätte, die auch nur annähernd der Dramatik des Begriffs Rechnung trügen.

Das liegt nicht daran, dass Städte keine Kompetenz zu einschneidenden Handlungen hätten. In den letzten Wochen haben Oberbürgermeister verschiedenster Städte vom Verbot jedweder Versammlung bis zur Pflicht, Masken zu tragen, äußerst weitreichende Maßnahmen ergriffen. So könnte man auch gegen den Klimawandel vorgehen.

Mir ist keine Kommune bekannt, die nach der Ausrufung des Klimanotstands irgendwelche Maßnahmen ergriffen hätte, die auch nur annähernd der Dramatik des Begriffs Rechnung trügen.

Tübingen hat auch ohne Notstand als einzige Stadt in Deutschland eine Kombination aus folgenden Pflichten und Geboten in Kraft gesetzt: Neubauten müssen mit einer Solaranlage ausgestattet werden; Altbauten müssen an Fernwärme angeschlossen werden; bestehende Baulücken müssen zum Schutz der freien Natur mit Wohnungen bebaut werden. Mit vielen kraftvollen Beschlüssen hat die Stadt so in nur zehn Jahren die CO2-Emissionen pro Kopf um 30 Prozent gesenkt.

Wenn der Klimanotstand zwar real ist, aber der Ausrufung nichts folgt, dann kann man nur zu dem Schluss kommen, dass der Zweck primär symbolischer Natur ist. Dagegen spricht in der Politik übrigens gar nichts. Manchmal muss man erst auf die Pauke hauen, bevor einem jemand zuhört. Es steht allerdings zu befürchten, dass die negativen Effekte überwiegen. Wenn zu wenig daraus folgt, sind die Befürworter einer ambitionierten Klimaschutzpolitik schnell enttäuscht. Und die Skeptiker werden von Notstandsbildern möglicherweise eher abgeschreckt.

Tübingen hat sich aus diesen Gründen gegen die Ausrufung des Klimanotstands entschieden. Wir waren uns einig, dass wir keinen Klimanotstand brauchen, um jetzt entschlossen zu handeln. Daher haben wir ein neues Klimaschutzziel beschlossen. Einstimmig verlangte der Gemeinderat, dass wir bis 2030 klimaneutral sein müssen und die notwendigen Schritte einleiten.

Boris Palmer ist seit 2007 Oberbürgermeister der Stadt Tübingen.


Dieser Beitrag ist zuerst im Heft „Wohlstand für Alle – Klimaschutz und Marktwirtschaft“ aus dem Jahr 2020 erschienen. Das Heft kann unter info@ludwig-erhard-stiftung.de bestellt werden; oder lesen Sie es hier als PDF.

DRUCKEN
DRUCKEN