Zum 1. Februar 2020 tritt Großbritannien aus der Europäischen Union aus. Aus diesem Anlass dokumentieren wir Ludwig Erhards Ansprache zur Einleitung der Verhandlungen über einen Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die er am 10. Oktober 1961 im Uhrensaal des Quai d’Orsay in Paris gehalten hat. Erhard war damals Präsident des Ministerrats der EWG.

Es ist mir eine besondere Freude und eine große Ehre, Vorsitzender dieser unserer heutigen denkwürdigen Sitzung sein zu dürfen. Zunächst möchte ich meinem verehrten französischen Kollegen, Ihnen, Herr Couve de Murville, sehr herzlich für die freundlichen Begrüßungsworte danken, die Sie als Hausherr an uns gerichtet haben. Ich fühle mich ermächtigt, Ihnen diesen Dank zugleich im Namen aller unserer hier anwesenden Freunde auszusprechen. Wir wissen es vor allem zu schätzen, dass Sie uns wieder einmal diesen würdigen Rahmen für unsere Erörterungen zur Verfügung gestellt haben.

An dieser Stätte sind schon oft Beschlüsse gefasst worden, die wegweisend für die Neuordnung Europas und der gesamten freien Welt waren. Ich urteile deshalb gewiss auch realistisch, wenn ich sage, dass heute in diesen Räumen einer der bedeutungsvollsten Abschnitte, ja vielleicht ein entscheidender der europäischen Nachkriegsgeschichte eingeleitet wird. Es ist mir eine besondere Freude, und das soll uns allen auch eine Ermutigung sein, dass wir in den Voraussetzungen und den Zielen unserer Arbeit übereinstimmen, denn solche Gemeinsamkeit schafft auch die geistige Atmosphäre, in der wir die vor uns liegenden Verhandlungen führen wollen und führen müssen.

Europa war stets bestimmt durch die Idee der Freiheit

Wir erkennen zudem, dass die hinter uns liegenden Jahre trotz mancher Enttäuschungen, mancher Missverständnisse dennoch nicht ungenutzt geblieben sind. Jeder von Ihnen würde, wenn er an meiner Stelle den Vorsitz wahrzunehmen hätte, aus gleicher Gesinnung und Überzeugung sprechen, denn wir alle begrüßen den mutigen Entschluss der britischen Regierung, in Verhandlungen mit dem Ziel eines Beitritts des Vereinigten Königreiches zum Gemeinsamen Markt einzutreten. So betrachte ich es auch als eine glückliche Fügung, aber zugleich auch als eine Mahnung an uns alle, dass unser neues Beginnen an dem gleichen Ort, an dem vor nunmehr fast drei Jahren unser erster Versuch einer Verständigung gescheitert ist, dieses Mal zu einer guten und glücklichen Lösung hinführen soll.

Was vor drei Jahren als ein Misserfolg gelten konnte, würde dieses Mal ein schwerer Schaden für Europa sein. Ich weiß mich mit allen Anwesenden und nicht nur mit ihnen, sondern mit allen Völkern der freien Welt einig, dass wir von dem entschlossenen Willen beseelt sein müssen, unsere Verhandlungen zu einem glücklichen Abschluss, zu einem politischen Erfolg für das freie Europa zu führen. Das ist mehr als nur ein Postulat, denn schon die letzten Jahre haben uns auf dem Wege der Einigung und der Erkenntnis der Zusammengehörigkeit ein gutes Stück weitergebracht. Darum hat sich nicht nur die Einsicht in die Notwendigkeit unseres Zusammenschlusses verstärkt, sondern es konnte darüber hinaus bereits eine ganze Zahl von Missverständnissen beiseite geräumt werden. Wir gehen also nicht unvorbereitet an unsere neue Aufgabe heran.

Wir begrüßen den britischen Schritt zunächst aus politischen Gründen. Die heutige politische Weltlage erfordert mehr denn je ein einiges Europa, denn wenn es noch einer letzten Lehre bedurft hätte, so haben sie uns die Ereignisse dieses Sommers erteilt. Es ist eine Frage der Selbstbehauptung, dass sich alle Länder des freien Europas – das heißt nicht nur die hier vertretenen – zusammenschließen. Europa ist zwar kaum jemals in der Vergangenheit eine politische Einheit gewesen, aber stets war es bestimmt durch die Idee der Freiheit, die seine Geschichte von seinen antiken und christlichen Anfängen bis in die Gegenwart geprägt hat.

In diesem Geist der Freiheit verteidigen wir heute mit der europäischen Integration die Sache der gesamten freien Welt, denn wir wollen ja nicht nur unseren nationalen oder regionalen Interessen dienen, sondern sind uns darüber hinaus des Zusammenhanges mit der Atlantischen Gemeinschaft der freien Völker bewusst. Wie aber könnte ein solches Europa ohne die volle aktive Teilnahme Großbritanniens Gestalt gewinnen und auf die Dauer bestehen? Dass alle Gründe der wirtschaftlichen Vernunft für einen solchen Zusammenschluss sprechen, erscheint mir fast überflüssig zu betonen.

Der Reichtum und die Würde Europas beruhen auf seiner gemeinsamen Zivilisation

Ich bitte Sie aber, diesen Hinweis nicht nur als eine persönliche Bemerkung aufzufassen, sondern ich spreche auch hier in voller Übereinstimmung mit allen derzeitigen Mitgliedsländern der EWG. Die EWG hat sich – und zwar nicht etwa nur in der Präambel, sondern in einem Artikel des Vertrages selbst – zu der Absicht bekannt, zur harmonischen Entwicklung des Welthandels, zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im internationalen Handelsverkehr und zum Abbau der Zollschranken beizutragen. Diese von mir zitierte Bemerkung – es ist der Artikel 110 des EWG-Vertrages – ist der Leitgedanke für die Verhandlungen, an deren Schwelle wir jetzt stehen.

Ich möchte aber neben der politischen und wirtschaftlichen Seite auch die kulturelle Zusammengehörigkeit unserer Länder und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit auf diesem Felde nachdrücklich betonen, denn Erziehung, Forschung und Kunst sind eben mehr als nur eine schöne Beigabe. Der Reichtum, die Haltung und die Würde Europas beruhen auf seiner gemeinsamen Zivilisation, die es heute mehr denn je zu verteidigen gilt. Dies zu vollbringen aber ist undenkbar ohne die Teilnahme eines Landes wie Großbritannien, dem Europa in allen Bereichen des volklichen und menschlichen Lebens so viel verdankt.

Dass wir also diese Übereinstimmung in unseren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zielen feststellen können, bietet uns die notwendige Grundlage und sei uns Gewähr für den Erfolg unserer gemeinsamen Bemühungen. Freilich verkenne ich dabei nicht, dass es erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden geben wird. Wir werden sie aber meistern in dem Bewusstsein unserer Zusammengehörigkeit sowie gemeinsam erkannter Notwendigkeiten und Interessen in allen entscheidenden Lebensfragen unserer Länder.

Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen, wie glücklich ich bin, dass durch die Gunst der Geschäftsordnung gerade mir vergönnt ist, den Vorsitz in unserer heutigen Zusammenkunft führen zu dürfen, und lassen Sie mich auch meine tiefe persönliche Genugtuung darüber bekunden, dass es zu diesen neuen, entscheidenden und wie ich hoffe auch glückhaften Anfängen gekommen ist.

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