Vor wenigen Monaten hat Dietrich Schönwitz, Rektor der Hochschule der Deutschen Bundesbank i.R., an dieser Stelle konstatiert, dass sich die Europäische Zentralbank im Schlepptau der Fiskalpolitiken befinde. Hat sich das durch die jüngsten Beschlüsse des EZB-Rates zur Erhöhung der Zinsen geändert? Nachfolgend analysiert der Autor, dass eine Fortführung der Schlepptausituation und fiskalpolitische Motive bei geldpolitischen Entscheidungen auch weiterhin nicht ausgeschlossen sind.

Mit Beschluss vom 21.Juli 2022 hat die Europäische Zentralbank (EZB) – nachdem zuvor die Netto-Staatsanleihekäufe im Rahmen des Programms zum Ankauf von Vermögenswerten (APP) und des Pandemie-Notfallankaufprogramms (PEPP) beendet wurden – die Zinssätze für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte sowie die Zinssätze für die Spitzenrefinanzierungsfazilität und die Einlagenfazilität mit Wirkung vom 27. Juli 2022 um 0,5 Prozentpunkte erhöht. Dieser Schritt zur Beendigung der Nullzinspolitik war aufgrund anhaltender Preisniveausteigerungen deutlich über dem Zweiprozentziel der EZB überfällig. Gleichzeitig hat der EZB-Rat seinem Instrumentenkasten ein neues Instrument hinzugefügt, das als „Transmission Protecting Instrument – TPI“ bezeichnet wird. Es stellt sich die Frage, ob mit diesem neuen Instrument eine Abkehr von in den letzten Jahren maßgeblichen fiskalischen Überlegungen verbunden ist.

Unterschätzung der Inflationsrisiken

Im Vergleich zur US-amerikanischen Notenbank Federal Reserve (FED) und der Bank of England (BOE), die ihren Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik schon 2021 vorbereiteten, hat die EZB lange gezögert, ihren ultra-lockeren Kurs mit Nullzinspolitik und umfangreichen Staatsanleihekäufen zurückzuführen. Noch Ende 2021 ging man bei der EZB von einem „transitorischen“ Charakter der Preisniveauerhöhungen aus, obwohl es bereits ernst zu nehmende, mahnende Stimmen bezüglich einer Verfestigung des Inflationsgeschehens gab. So warnte Larry Summers, Nobelpreisträger für Wirtschaft, schon im Juni 2021: “Die Inflationsrisiken werden unterschätzt. In den USA und global.“ Es sei so wie in den 1960er Jahren, als sich Inflationsrisiken langsam aufbauten. Je später man reagiert, desto stärker müsse man gegensteuern. Und Gabriel Felbermayr, vormaliger Präsident des Instituts für Weltwirtschaft, merkte im September des gleichen Jahres an: „Die Inflation droht dauerhaft zu steigen.“

Längerfristige Preisniveausteigerungen

Verstärkt wird eine Tendenz zu anhaltenden Preisniveausteigerungen durch längerfristig wirkende Einflussfaktoren wie alternde Gesellschaften im Zuge des demographischen Wandels, worauf Charles Goodhart, früherer Chefberater der BOE und emeritierter Professor der London School of Economics und Manoj Pradhan in einer viel diskutierten Studie hingewiesen haben, sowie gemäß einer Modellrechnung des von Zentralbanken und Bankenaufsichtsbehörden gegründeten „Network for Greening the Financial System“ durch den Umbau der Volkswirtschaften zur Klimaneutralität. Deflationäre Tendenzen, die in den letzten Jahren als „offizielle“ Begründung für die expansive Geldpolitik der EZB dienten, gehören damit der Vergangenheit an. Die Dynamik der Inflationsentwicklung in der Euro-Zone verdeutlicht der Anstieg der jährlichen Inflationsrate innerhalb eines Jahres um 6,7 Prozentpunkte auf 8,6 Prozent im Juni 2022 mit weiter steigender Tendenz.

Problemlöser des Eurosystems

Es war daher für die europäische Geldpolitik überfällig gemäß dem vorgegebenen Auftrag zur Preisniveaustabilität den nunmehr durch die Energiekrise weiter angeheizten Inflationsraten entgegenzuwirken. Zur Strategie der EZB in den letzten Jahren haben die führenden ehemaligen „Bundesbanker“ Otmar Issing, Helmut Schlesinger und Jürgen Stark in einem Memorandum festgestellt, dass die EZB mit ihrer geldpolitisch expansiven Ausrichtung und fortgesetzten Anleihekäufen bei nicht mehr bestehenden deflationären Entwicklungen den Bereich monetärer Staatsfinanzierung betreten hat, was ihr nach den Statuten untersagt ist. Bildlich ausgedrückt war die EZB damit, wie in einem früheren Beitrag an dieser Stelle näher ausgeführt wurde, ins Schlepptau der Fiskalpolitiken geraten. Ihre durch das „Whatever it Takes“ aus dem Jahr 2012 des früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi eingeleitete und von seiner Nachfolgerin, Christine Lagarde, übernommene Rolle als Problemlöser des Eurosystems über die bestimmungsgemäße geldpolitische Aufgabenzuweisung hinaus führte dazu, dass staatliche Bemühungen zur Verbesserung der Einhaltung der europäischen Fiskalregeln nicht gefördert wurden. In diesen Zusammenhang fügt es sich, dass die EU-Kommission beschlossen hat, die Schuldenregeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes auch 2023 und damit für ein weiteres Jahr auszusetzen.

Anmaßung von Wissen

Für das zusammen mit den Zinsbeschlüssen eingeführte TPI – das kurz zuvor noch als „Anti-Fragmentierungsinstrument“ angekündigt wurde – führt der EZB-Rat an, dass die Einrichtung nach seiner Einschätzung erforderlich ist, um die effektive Transmission der geldpolitischen Impulse im gesamten Währungsgebiet zu unterstützen. Zu diesem Zweck soll das Eurosystem in der Lage sein, Wertpapiere des öffentlichen Sektors am Sekundärmarkt zu kaufen, ohne dass die Ankäufe von vornherein beschränkt sind. Als Bedingung für den Einsatz dieses Instruments wird in der dazu veröffentlichten Pressemitteilung genannt, dass es darum geht „…ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamiken entgegenzuwirken.“ Mit dem Ergebnis, dass die Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen „…nicht durch länderspezifische Fundamentalfaktoren begründet ist.“ Diese Formulierungen lassen bei künftigen Entscheidungen über die Aktivierung des TPI viel Spielraum, denn es dürfte schwierig sein zeitnah festzustellen, ob Risikoaufschläge speziell auf Wertpapiere hochverschuldeter Eurostaaten infolge von Zinssatzveränderungen Ergebnis „ungerechtfertigter, ungeordneter“ Marktveränderungen sind. In Anlehnung an Friedrich August von Hayek könnte man von „Anmaßung von Wissen“ in Bezug auf die Ergebnisse marktwirtschaftlicher Prozesse sprechen.

Braucht man das TPI?

Abgesehen von diesem methodischen Einwand verfügt die EZB bereits über Möglichkeiten für Wertpapierkäufe bestimmter Euroländer. Es handelt sich dabei um die flexible Wiederanlage der Tilgungsbeiträge fällig werdender Anleihen aus dem beendeten Ankaufprogramm PEPP. Außerdem besteht die Möglichkeit von Ankäufen im Rahmen des OMT-Programms (Outright Monetary Transactions), wobei aus der Pressemitteilung der EZB nicht klar wird, wie seine Einsatzmöglichkeit vom TPI abgegrenzt wird. Dies berücksichtigend stellt sich die Frage, ob das TPI sachlich erforderlich ist. Oder ob man es beiden Fraktionen im EZB-Rat recht machen wollte: Den „Falken“ mit einer deutlichen Leitzinserhöhung und den „Tauben“ mit dem TPI. Als Fazit ergibt sich: Je nach Meinungsbildung im EZB-Rat und Einfluss besonders hoch verschuldeter Eurostaaten besteht weiterhin die Möglichkeit, fiskalische Überlegungen in die Entscheidungsfindung einfließen zu lassen. Ob sich daraus eine erneute Schlepptausituation entwickelt, bleibt abzuwarten.

Literatur

Europäische Zentralbank: Geldpolitische Beschlüsse, Pressemitteilung, 21. Juli 2022, www.ecb.europa.eu

Europäische Zentralbank: Das Instrument zur Absicherung der Transmission, 21. Juli 2022, www.bundesbank.de

Gabriel Felbermayr: Interview, Die Zeit, 9.9.2021

Charles Goodhart /Manoj Pradhan: The Great Demographic Reversal – Ageing Societies, Waning Inequality and Inflation Revival, Cham 2020

Issing, Otmar/Schlesinger, Helmut/Stark, Jürgen/u.a.: Memorandum on the ECB‘s Monetary Policy, October 4th 2019, www.hanswernersinn.de

Joachim Nagel: Wohin steuert die Geldpolitik?, 4.7.2022, www.bundesbank.de/presse/reden

Network for Greening the Financial System: NGFS Climate Scenarios for Central Banks and Supervisors, June 2021, ngfs.net

Dietrich Schönwitz: Europäische Zentralbank im Schlepptau der Fiskalpolitiken, 23.12.2021, Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn, www.ludwig-erhard.de


Prof. Dr. Dietrich Schönwitz ist Rektor der Hochschule der Deutschen Bundesbank im Ruhestand.

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