Die moderne Art von Wirtschaftspolitik ist im höchsten Maß geeignet, die wirtschaftliche Freiheit zu unterhöhlen und – da es keine geteilte Freiheit gibt – im letzten dem Kollektivismus Vorschub zu leisten.

Vordergründig gesehen lassen sich viele Gründe anführen, die angesichts der geistig nicht mehr einzufangenden und alle Daseinsformen erfassenden Entwicklung immer stärkere Zweifel zu rechtfertigen scheinen, ob die Freiheit überhaupt noch bestehen kann oder ob dieser Wert nicht schon verspielt ist. Bestenfalls – so hört man – ließe sich das Prinzip noch durch eine behördliche Rationierung retten, die den Bürgern und ihren Gruppen das jeweils statthafte Maß an Freiheit zuweist. Die schon mit einer Beschränkung der individuellen Freiheit verbundene staatlich manipulierte Ordnung macht in der Regel immer weitere und erweiterte Eingriffe in das sozialökonomische Geschehen erforderlich, die mit neuen Verlusten an Freiheit zu bezahlen sind. Ich predige kein „Hand in den Schoß legen“, wenn ich beklage, dass wir offenbar nicht mehr die Nerven haben, Prozesse ablaufen zu lassen oder auf selbstheilende Kräfte zu vertrauen. Viele fordern vielmehr Aktionen, weil sich nur mit ihnen Ruhm ernten lässt.Die Freiheit ist nur für den zu retten, der sie besitzen und verteidigen will und dem sie mehr bedeutet als einen zwar wünschenswerten, aber nicht lebensnotwendigen Luxus. Freiheit entfaltet sich auch nicht im wertfreien Raum. Auch dort, wo wir von individueller Freiheit sprechen, meinen wir dazu die Bezogenheit auf das menschliche Gewissen und die Einordnung in die Gemeinschaft und Gesellschaft. Ich wiederhole, was ich schon oft gesagt habe: „Freiheit ohne Ordnung treibt nur zu leicht ins Chaotische, und Ordnung ohne Freiheit überantwortet uns dem Zwang.“

Unfreiheit – unentrinnbares Schicksal?

Wer sich kollektivistischen Vorstellungen aufgeschlossen zeigt, wird den Verlust der Freiheit nicht als tragisch empfinden. Aber im Wesentlichen sind es doch mehr Gedankenlosigkeit oder einfältiger Illusionismus, die die Menschen oder Völker nicht mehr völlig immun sein lassen. Freiheit lässt sich eben mit Gewalt nicht versöhnen noch auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Darum ist Freiheit auch kein ersetz- oder austauschbarer Wert.
Die Härte und Schärfe, mit denen ich die Freiheit, die ich meine, verteidige und geschützt wissen möchte, könnten nun auf Intoleranz meinerseits schließen lassen, die mit der Forderung nach Schutz der individuellen und freien Meinung im allgemeinen, aber der gegensätzlichen Meinung im Besonderen unvereinbar wäre. Eine solche Auslegung ginge indessen an der Zeiterscheinung vor-bei, dass die Unfreiheit als angeblich unentrinnbares Schicksal immer duldsamer hingenommen wird, während versucht wird, das Einstehen für die Freiheit als kapitalistisch oder reaktionär, als revanchistisch oder als Ausdruck spießbürgerlicher Gesinnung zu brandmarken. Anstelle freiheitlicher Gesinnung soll schablonenhafte Gesinnungstreue treten.
Wann und wo immer jedermann seine Meinung sagen darf und will, herrscht im Allgemeinen auch die Bereitschaft zum Dialog oder zur Auseinandersetzung vor. Je freier und unabhängiger sich die Menschen fühlen, desto mehr werden sie auch Toleranz zu üben bereit sein. Unduldsamkeit dagegen resultiert immer aus der Furcht, nicht gesinnungstreu genug zu erscheinen. Wo die freie Meinungsäußerung nicht mehr respektiert wird, sind die Freiheit schlechthin und dazu noch die Demokratie bedroht. Zwar wird jedes demokratische Regime betonen, dass der individuelle Bekennermut wichtig ist und vorausgesetzt wird. Tatsächlich aber flüchtet sich der einzelne nur zu gern in die Anonymität und lässt Funktionäre für sich sprechen, denn das ist der Weg des gerings-ten Risikos und des vielleicht sogar größten Effekts, und gerade politisch mächtige Gruppen wissen ihr Anliegen auf solche Weise mit Nachdruck vorzutragen.

Pragmatismus, Opportunismus, Konformismus

Die geistige Armut unserer Zeit zeigt sich vor allem darin, dass der Pragmatismus im politischen Bereich fast allgemein als weise und besonnen gilt, aber niemand danach fragt, ob die sich dahinter oft verbergende Grundsatzlosigkeit überhaupt eine politische Tugend sein kann. Sich harten Realitäten zu beugen, entspricht nicht der politischen Vernunft, da es doch fast immer Möglichkeiten gibt, Voraussetzungen zu ändern oder andere Wege einzuschlagen. So gesehen ist Pragmatismus einer halben Kapitulation gleichzusetzen: Er ist jedenfalls der Weg des geringsten Widerstands.
Dann aber haben wir noch mit dem Opportunismus abzurechnen, der im Namen der Freiheit keinen Anspruch darauf erheben kann, ernsthaft gewürdigt zu werden, denn bei ihm geht es gar nicht um den Schutz der Freiheit und den Respekt vor einer anderen Meinung. Opportunisten glauben, gesinnungslos alles hinnehmen zu sollen, was ihrer Bequemlichkeit dient und sie nicht der Gefahr aussetzt, für die eigene Überzeugung einstehen zu müssen. Das sind einerseits die Lauen im Lande, die sich am liebsten unter die Decke verkriechen, um nichts bekennen zu müssen, andererseits aber auch diejenigen, die durch besondere Beflissenheit Lob und Anerkennung ernten wollen.
Dann begegnen uns noch die Konformisten, die jeder eigenen Meinung und Überzeugung bar, aus Feigheit und reiner Zweck-mäßigkeit alles gut heißen, was ihnen abverlangt wird. Deren Verhalten ist überhaupt nicht mehr als Haltung zu charakterisieren, denn sie sind nicht mehr als Treibsand – buchstäblich „vom Winde verweht“.

Gefangen im Kollektiv

Das triste Bild, das ich hiermit aufgezeichnet habe, entspringt keinem fatalistischen Pessimismus. Ich meine vielmehr fragen zu müssen, welche Meinungsfreiheit des Schutzes wert ist und in-wieweit der einzelne Staatsbürger unter den gegenwärtigen Verhältnissen überhaupt noch in der Lage ist, gegenüber einem Kollektivurteil seine eigene Position zu erläutern. Freiheit zur Durchsetzung von Gewalt und Terror zu fordern, löst alle Bande frommer Scheu. Freiheit zu schützen verlangt, solcher geistlosen Anarchie eine geistige Kraft entgegen zu setzen und sich dabei bewusst zu sein, dass sich Freiheit nur dann und nur so lange schützen lässt, als sie die Bürger und die Gesellschaft geschützt wissen wollen – und zwar nicht nur in der Abstraktion –, und dass zu ihrem Schutz die Machtmittel des Staates völlig unzureichend sind und das persönliche Engagement der Bürger unverzichtbar ist.
Mit dieser Feststellung die Frage aufgeworfen, wie es um die Zivilcourage in unseren westlichen Demokratien bestellt ist. Wer weiß denn als Individuum noch etwas vom „Zorn der freien Rede“? Wo sind denn noch die Freien, die nicht nach dem fragen, „was danach kommt“, sondern allein nach dem, „was Recht ist“? Man hat einst den Mannesmut vor Königsthronen gerühmt: Wir müssen leider feststellen, dass diese stolze Tugend in der Demokratie nötig ist, aber nicht häufig geübt wird.
Die Freiheit, für die ich plädiere, ist wohl durch das Grundgesetz geschützt, aber dieser Rechtsschutz bleibt gesellschaftspolitisch fragwürdig, wenn er nicht von der Gesinnung des Volkes getragen wird. Aufzufallen, unbequem zu sein, sich missliebig zu machen: Das ist die Scheu derer, die befürchten, dass ihnen aus einem freien Bekenntnis persönlicher Schaden erwachsen könnte. Ob eine solche Diagnose der Wirklichkeit vollständig entspricht, scheint mir nicht so wichtig zu sein. Viel entscheidender ist wohl die Tatsache, dass sich heute intuitiv eine Furcht verbreitet hat, die Menschen schweigen lässt. Jede Staatsform – und so auch die Demokratie –, die die Gesinnung bestraft und verdammt, muss veröden, und jede Gesellschaft bereitet sich selbst den Untergang, wenn sie die Öffentlichkeit gegenüber anders Denkenden und Non-Konformisten, aufwiegelt. Im letzten sind in dieser Frage also nicht so sehr Gesetz und Recht angesprochen, sondern vor allem Moral und Gesinnung jeder Gemeinschaft.
Auszug aus einer Rede, die am 1. September 1968 vor der Mont Pelerin Society in Aviemore/Schottland gehalten wurde. Im Archiv der Ludwig-Erhard-Stiftung ist der Beitrag in voller Länge unter NE 827 dokumentiert. Die Rede wurde unter dem Titel „Freiheit und Dissens“ bereits im Oktober 1968 in Heft 9 der von Herbert B. Schmidt verantworteten Schriftenreihe „Zum Dialog“ veröffentlicht. Eine gekürzte Fassung erschien außerdem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Dezember 2013 nebst einer Einleitung von Herbert B. Schmidt.

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