Frankreichs Präsident will mehr Zentralismus und Dirigismus für Europa. Die richtige Antwort auf die EU-Krise wäre eine konsequente Orientierung am Subsidiaritätsprinzip.

Der Europawahlkampf wird derzeit in erster Linie als Auseinandersetzung zwischen Freunden und Feinden Europas inszeniert. Wer für Europa ist, wirbt für „mehr“ oder für „ein stärkeres““ Europa. Wer diesem Ruf nicht uneingeschränkt folgen mag, gilt als europafeindlich. Doch es ist die konkrete Realität der Integration, die das Misstrauen gegen „Brüssel“ in vielen Mitgliedstaaten schürt. Wenn die EU ihre offenkundige Integrationskrise überwinden will, muss der Grundkonflikt über die Zielrichtung der Integration aufgelöst werden, der seit den frühen fünfziger Jahren schwelt.

In diesem Konflikt wird die eine Position derzeit von dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron verkörpert. Er mag für französische Verhältnisse als brutalstmöglicher Reformer durchgehen. Seine integrationspolitischen Vorstellungen sprechen jedoch eine andere Sprache. In seiner Rede an der Sorbonne vom September 2017 und in seinem jüngsten Aufruf an die EU-Bürger präsentierte er einen bunten Strauß von wirtschafts- und sozialpolitischen Vorschlägen, die einen neuen Schub an Zentralisierung und Dirigismus bedeuten würden. Macrons Liste umfasst viel: Bestrafung und Verbot von Unternehmen, die gegen strategische Interessen und wesentliche Werte Europas verstoßen, bevorzugte Behandlung europäischer Unternehmen, eine EU-Klimabank, einen EU-Energiemarkt mit einem CO2-Einheitspreis, eine Vereinheitlichung der Unternehmensbesteuerung, eine Agentur für digitale Innovationen, die Durchsetzung eines EU-Mindestlohns und anderer Sozialstandards, ein Haushalt für die Eurozone mit deutlich erweiterten Investitionsmöglichkeiten und die Schaffung europäischer Universitäten und eines Solidaritätsfonds.

Macron setzt auf eine Integration von oben durch neue gemeinsame Institutionen und größere gemeinsame Budgets. Er zielt darauf ab, die wirtschaftliche Entwicklung durch Steuern, Verbote und Eingriffe zu lenken und gesellschaftliche Strukturen durch Umverteilungsinstrumente und Mindeststandards zu vereinheitlichen. Er traut der Politik das Wissen zu, Fortschritt zu definieren und Innovationen zu lenken. Auffällig wenig Vertrauen setzt Macron dagegen in Wettbewerb, Dezentralität oder die Tragfähigkeit von Staatsfinanzen und Sozialsystemen. Umso mehr ist die Rede vom „Schutz“ dieses oder jenen Anliegens: Entgegen dem Freiheits- und Demokratiepathos seiner Reden ist Macron von einem paternalistischen Politikverständnis, vom Geist der Bevormundung durchdrungen.

„Ich könnte nur mit Schaudern an ein Europa denken, wenn ich es mir als einen zentralistischen Überstaat vorstellen müsste. Diesen Weg kann man in Europa nicht gehen, ohne nicht zugleich das Wertvollste zu vernichten, was in Europa zwischen den einzelnen Ländern und Völkern schwingt.“ (Ludwig Erhard 1952)

Hier ist ein saint-simonistischer Steuerungsglauben am Werk, der die Potenziale einer offenen Gesellschaft unterschätzt und die Möglichkeiten der Politik überschätzt. Die Umsetzung eines solchen Denkens hat in vielen Wohlfahrtsstaaten, insbesondere in Frankreich, zu schweren sozialen Verwerfungen geführt. Hebt man es in eine europäische Dimension, so wachsen nur die Ausmaße der Fehler und Kosten einer solchen Politik. Zudem hätte dies einen hohen politischen Preis: Wenn neue Institutionen, Agenturen und Budgets auf EU-Ebene geschaffen werden, ohne vorab zu klären, nach welchen ordnungspolitischen Maßstäben sie handeln sollen, werden transnationale Umverteilungskonflikte nur geschürt und das Integrationsziel konterkariert. Kurz gesagt: Macrons Ideen würden Europa ökonomisch schwächen und politisch spalten. Die Konvergenz, die dadurch zu erreichen wäre, wäre eine Konvergenz nach unten.

Organisierte Verantwortungslosigkeit

Es ist beachtlich, dass die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer Macron in einigen Punkten widersprochen hat. Aber die Geisteshaltung, für die Macron steht und wirbt, hat auch in Deutschland viele Anhänger. So zeigt die Bundesregierung immer weniger Engagement im andauernden Kampf um die Stabilitätskultur der gemeinsamen Währung. Sie treibt die Idee eines Euro-Budgets voran, von dem niemand so recht weiß, wofür und nach welchen Maßstäben es genau eingesetzt werden soll. Sie propagiert einen industrie- und innovationspolitischen Dirigismus und mischt sich im Bankensektor in originär unternehmerische Entscheidungen ein.

Die Antwort auf Macron müsste eine grundsätzliche Absage an Interventionismus, Politikverflechtung und Zentralisierung sein. Europa braucht, wenn es ökonomisch stark sein und politischen Zusammenhalt bewirken soll, eine Integration von unten. Die Integration müsste dazu auf den Wettbewerb, die Kreativität, die Verantwortung und die Vielfalt dezentraler Einheiten setzen. Europa müsste einer primär marktwirtschaftlichen Integrationsphilosophie folgen, die Bürgern und Unternehmen ermöglicht, eigenen Plänen und eigenen Präferenzen zu folgen und dadurch auch zu Kooperationen und Innovationen zu finden. Der Anspruch der Politik muss dazu im Wesentlichen auf die Durchsetzung von allgemeinen Regeln der Wettbewerbsordnung und der Freizügigkeit sowie auf die innere und äußere Sicherheit bezogen sein.

Dazu müsste das politische Mehrebenensystem dem Grundgedanken der Subsidiarität konsequent Rechnung tragen. Den dezentralen Einheiten müssten hinreichend große Entscheidungsräume offengehalten werden, in denen sie demokratische Entscheidungen autonom und im Wettbewerb zueinander treffen können. Dazu bräuchte es eine Entflechtung von Kompetenzen und eine materielle Selbstbeschränkung der EU bei der Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten – durch Konzentration auf Regelsetzung und Verzicht auf durchgreifende Detailsteuerung. Nicht zuletzt müssten die Entscheidungsstrukturen der EU transparenter werden, denn ihr eigentliches Demokratiedefizit liegt in der organisierten Verantwortungslosigkeit. Damit entziehen sich Brüssel und die nationalen Regierungen zunehmend der politischen Kontrolle durch Bürger und Wähler.

Europas Potenzial liegt weder in der Schaffung eines transnationalen Wohlfahrtsstaats mit kopflastiger Bürokratie noch in der Kopie des chinesischen Staatskapitalismus. Europa muss nach innen wie nach außen auf eine Kultur der Freiheit, der Dezentralität, der Offenheit und des Wettbewerbs setzen. Dann hat es die besten Chancen, Wohlstand und Sicherheit seiner Bürger zu fördern und die politische Integration zu erreichen. Die Europäische Union bräuchte, wie schon in ihren Anfängen, weniger Jean Monnet und mehr Ludwig Erhard.

Prof. Dr. Hans Jörg Hennecke, Geschäftsführer von HANDWERK.NRW, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Rostock und ist Vorsitzender der List-Gesellschaft.

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