Eine der wichtigsten Aufgaben der Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte es sein, möglichst viele Menschen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu motivieren. Doch die Regierung setzt ein falsches Zeichen.

Die Soziale Marktwirtschaft war in den vergangenen sieben Jahrzehnten das Fundament der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik. Kern einer jeden Marktwirtschaft sind die Marktpreise, über die Knappheiten angezeigt und überwunden werden. Nun gibt es in Deutschland keine freie, sondern eine Soziale Marktwirtschaft, in der aus guten Gründen manche Marktprozesse und deren Ergebnisse korrigiert werden.

Nicht zuletzt ist es Aufgabe des Sozialstaats, all jenen zu helfen, die in Not geraten sind, sei es durch individuelle Schicksalsschläge oder infolge von Strukturwandel, wodurch Unternehmen oder Branchen unter Druck geraten und sich neu aufstellen oder vom Markt verschwinden und die Belegschaft entlassen müssen. Die Arbeitslosenversicherung dämpft die Sorge vor Veränderung, indem sie für einen begrenzten Zeitraum die finanziellen Folgen einer Kündigung abfedert. Zu Recht gilt daher eine Sozialversicherung als Produktivkraft.

Angesichts von 1,74 Millionen offenen Stellen sind heute die Chancen, eine neue Beschäftigung zu finden, so gut wie lange nicht mehr. Viele Menschen, die nach dem ersten Coronaschock im Frühjahr 2020 arbeitslos wurden, sind heute wieder beschäftigt. Und viele Unternehmen, die damals ihre Mitarbeiter entließen, suchen heute händeringend Personal. Ein Reservoir sind dabei auch die 3,6 Millionen erwerbsfähigen Empfänger von Arbeitslosengeld II (ALG II). Das ALG II, im Volksmund als „Hartz IV“ verpönt, wurde 2005 im Rahmen der „Agenda-2010-Reformen“ eingeführt. Im Gegenzug wurde die Arbeitslosenhilfe für Langzeitarbeitslose abgeschafft. Die Idee: Der Staat ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass niemand unter das soziale Existenzminimum rutscht.

Wer angesichts von damals fünf Millionen Arbeitslosen trotz intensiver Bemühungen keine Arbeit findet, über kein Vermögen oder andere Einkommensquellen verfügt oder keine unterhaltspflichtigen Angehörigen hat, erhält eine Grundsicherung vom Staat, der auch eine angemessene Miete erstattet. Wer diese Fürsorgeleistung bekommt, der steht in der Pflicht mitzuwirken, seine Hilfsbedürftigkeit zu überwinden – konkret: Vorstellungstermine einzuhalten, sich zu qualifizieren, auf Arbeitsstellen zu bewerben und eine zumutbare Beschäftigung anzunehmen.

Leistungskürzungen drohen denjenigen, die mehrfach gegen diese Vorgaben verstoßen. Laut Bundesagentur für Arbeit waren aber solche Sanktionen für mehr als 95 Prozent der Leistungsbezieher nie ein Thema, da sie sich regelkonform verhielten. Anfang dieses Jahres waren nicht mehr als 1,6 Prozent der erwerbsfähigen ALG-II-Bezieher mit Sanktionen belegt. Waren! Denn am Donnerstag vergangener Woche beschloss der Bundestag mit den Stimmen von SPD, Grünen und der FDP, dass Langzeitarbeitslose auch dann die volle Grundsicherung erhalten, wenn sie sich nicht um eine reguläre Beschäftigung bemühen. Da die Vermögensprüfung bereits mit den Corona-Hilfsmaßnahmen bis auf Weiteres ausgesetzt wurde, rücken bei einem Wegfall der Sanktionen die Hartz-IV-Leistungen in die Nähe eines bedingungslosen Grundeinkommens für Menschen ohne legales Einkommen.

Die Idee solch eines Grundeinkommens ist nicht neu und wurde schon von zahlreichen Philosophen und Utopisten des klassischen Altertums und der Neuzeit propagiert. Auch heute hat diese Idee zahlreiche prominente Anhänger. Bemerkenswert ist, wie widersprüchlich die Erwartungen sind, die sich die Protagonisten davon versprechen. Neben dem Schutz der Menschenwürde auch in Zeiten von einer verfestigten Massenarbeitslosigkeit sind die Verschlankung und Effizienzsteigerung des Sozialstaats, eine Umverteilung von Reich zu Arm oder das Recht auf Selbstverwirklichung der Menschen die gängigsten Argumente. Zweifellos ist richtig, dass durch die Digitalisierung und die angestrebte Dekarbonisierung der Wirtschaft viele Arbeitsplätze wegfallen dürften. Richtig ist aber auch, dass technischer Fortschritt und Strukturwandel in der Vergangenheit meist nicht zu einer persistenten Massenarbeitslosigkeit geführt haben.

Dauerhaftes Wachstum ist nicht in Sicht

Vielmehr entstanden stets neue und auch gut bezahlte Arbeitsplätze. Der Glaube, mit einem garantierten Grundeinkommen den Menschen die Sorge vor technologischem Wandel nehmen zu können, basiert auf der Annahme, es sei möglich, jedem Einwohner einen halbwegs komfortablen Lebensstandard gewährleisten zu können, ohne dass es eine Verpflichtung gibt, dafür zu arbeiten.

Heute steht die deutsche Volkswirtschaft vor großen Herausforderungen. Eingeklemmt zwischen Inflation, Krieg, Energieknappheit, Dekarbonisierung und Lieferengpässen ist dauerhaftes reales Wachstum nicht in Sicht. Hinzu kommen die schon bald einsetzenden massiven Alterungsschübe, die das Potenzialwachstum weiterdrücken werden. Eine Rückkehr zu den Verhältnissen des zurückliegenden Jahrzehnts ist nicht in Sicht.

Damals, im Aufschwung nach der Finanzkrise, lockte das ökonomische Kraftzentrum in der EU viele Fachkräfte aus anderen Mitgliedstaaten nach Deutschland. In der Folge wuchs die Wohnbevölkerung von 2011 bis 2020 um fast drei Millionen an, was die Konjunktur weiter beflügelte. Der Aufschwung ließ die Gewinne vieler Unternehmen kräftig ansteigen, zugleich wuchsen die Steuer- und Beitragseinnahmen des Staates stark an. Spätestens die Coronapandemie bremste diese Euphorie aus. Zunächst stand vielerorts die Produktion still, dann brachen die Lieferketten zusammen, und die Zuwanderung blieb aus. Bald wurden nicht nur Vorprodukte, sondern auch Arbeitskräfte knapp. Heute gibt es so viele unbesetzte Stellen wie nie, auch weil viele Unternehmen qualifiziertes Personal trotz Stagflationssorgen horten.

Eine der wichtigsten Aufgaben der Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte es daher sein, möglichst viele Menschen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu motivieren, und jenen, die bislang in Teilzeit arbeiten, Anreize zu setzen, ihre Erwerbstätigkeit auszudehnen. Alle Bemühungen in diese Richtung würden mit jeder Form eines bedingungslosen Grundeinkommens konterkariert. Und das gilt auch für die beschlossene Form der Hartz-IV-Leistungen. Sicher, die Reform von 2005 war keineswegs perfekt. Da das ALG II ein Kombilohnmodell ist, war der erste Kardinalfehler die fehlende Flankierung durch einen gesetzlichen Mindestlohn. Dieser Defekt wurde 2014 korrigiert, ohne dass es zu relevanten Arbeitsplatzverlusten kam.

Den zweiten Kardinalfehler, die sehr hohen Transferentzugsraten, sprich eine Belastung mit staatlichen Abgaben in der Größenordnung von 80 oder gar 100 Prozent für Hinzuverdienste, will die Bundesregierung laut Koalitionsvertrag bald angehen. Das wird schwer genug, weil solch eine Reform vermutlich nicht ohne Verlierer möglich und zugleich bezahlbar sein wird. Vorher das System auszuhöhlen macht eine Reform nicht einfacher. Denn etwaige Spielräume, die Verlierer solch einer Reform zu kompensieren, werden vorschnell aus der Hand gegeben.


Der Artikel erschien am 27. Mai 2022 im Heft 102/ 2022 des Handelsblatts.

Der Chefökonom Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats und Berater mehrerer Bundesregierungen sowie ausländischer Regierungen. 

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