Wer die Medienlandschaft in Deutschland überblickt, muss zu dem Schluss kommen: Dies ist das Land der Sozialen Marktwirtschaft und – implizit – der nicht so heimliche Sieger der wirtschaftspolitischen Debatte ist Ludwig Erhard. Es gibt kaum eine Partei, die sich nicht auf die Soziale Marktwirtschaft und/oder Ludwig Erhard beruft. Das gilt geradezu selbstverständlich für „seine Partei“, die sich vor allem bei Gedenkfeiern und ähnlichen Anlässen zu seinem „Erbe“ bekennt.

Im Alltag der Wirtschaftspolitik ist davon immer weniger zu sehen. Die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns – um nur ein Beispiel zu nennen –, gegen den sich ordnungspolitisch orientierte Wirtschaftspolitiker so lange erfolgreich gewehrt haben, stellt einen eklatanten Verstoß gegen fundamentale Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft dar. Neben allen rein ökonomischen Einwänden wird die Politisierung der Lohnpolitik vor allem in Wahlkampfzeiten das gesellschaftliche Klima vergiften. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, fordern Frankreich und Deutschland in einem gemeinsamen Papier die Schaffung einer „sozialen Basis“ der Währungsunion, zu der unter anderem die Einführung eines Mindestlohns in allen Mitgliedsländern zählt (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Mai 2015). Man kann sich leicht vorstellen, was hinter dieser Forderung steckt. Deutschland geht nicht nur – zusammen mit Frankreich – in die falsche Richtung voraus, es übt auch noch Druck auf andere Länder aus, marktwirtschaftliche Prinzipien auf einem zentralen Gebiet der Wirtschaftspolitik aufzugeben. Hatte man nicht einmal die Vorstellung, die Soziale Marktwirtschaft könne als Modell erfolgreicher Wirtschaftspolitik für andere Länder dienen?

Diese „Errungenschaft“ der Großen Koalition wird noch übertroffen von der „Rente mit 63“. Der wirtschaftlich unverantwortliche und in seiner unsozialen Schieflage kaum noch zu übertreffende Eingriff in das Rentensystem wird von der zuständigen Ministerin dann ausgerechnet auch noch als weiteres „Kapitel der Sozialen Marktwirtschaft“ gepriesen.

Ich will Sie nicht mit weiteren Belegen langweilen, in denen Politiker aller Couleur die Soziale Marktwirtschaft und Ludwig Erhard für sich reklamieren oder genauer gesagt usurpieren. Es genügt im Allgemeinen, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage in Deutschland als unsozial zu charakterisieren, um mit dem Verweis auf das Epitheton Umverteilungsphantasien aller Art als Besinnung auf die Soziale Marktwirtschaft einzufordern.

Lassen Sie mich diesen Gedanken mit einem Befund am linken Rand schließen. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 11. Mai 2014 hat in einem Artikel über große Ökonomen ausgerechnet Sahra Wagenknecht eingeladen, Ludwig Erhard zu porträtieren. Mancher Kritik an zahlreichen Verstößen der etablierten Parteien gegen die von ihm formulierten Prinzipien muss man nolens volens zustimmen, auch wenn sich in der Analyse erwartungsgemäß nicht der Mindestlohn und andere Eingriffe in das Marktgeschehen finden. Ludwig Erhard aber damit implizit (und an anderer Stelle explizit) für die Linke zu reklamieren und sich damit – um es milde zu formulieren – nicht der intellektuellen Unredlichkeit auszusetzen, zeugt vom jämmerlichen Niedergang ordnungspolitischen Denkens in Deutschland. Wirtschaftspolitik und wirtschaftspolitische Diskussionen sind der Beliebigkeit verfallen. Ludwig Erhard „gehört allen“ – also niemandem. Man ist versucht mit Antonia im Kaufmann von Venedig zu klagen: „Der Teufel kann sich auf die Schrift berufen.“

Alle möglichen Programme und Parolen segeln heute unter der Fahne der Sozialen Marktwirtschaft. Die „Soziale Marktwirtschaft“ ist in der Realität zu einem beliebig (miss)brauchbaren Slogan verkommen. Der Sozialen Marktwirtschaft in dieser Form sind damit die Gegner abhandengekommen, und das ist so ziemlich das Schlimmste, was dieser einstmals kontroversen und zukunftsweisenden Konzeption passieren konnte.

Das Ringen um die soziale Komponente

Es gab Zeiten, da war die Gefechtslage ganz anders. Gerade in den Anfängen der jungen Republik wurde hart um die wirtschaftliche Ordnung gerungen. Die CDU war weithin geprägt vom Sozialistischen des Ahlener Programms. SPD und Gewerkschaften führten einen erbitterten Krieg um die Führerschaft in Politik und Wirtschaft. Ludwig Erhard stand im Zentrum vielfältiger Anfeindungen. Gräfin Dönhoff ist bekannt für ihre Warnung aus dem Jahre 1948: „Gott schütze uns vor diesem Mann.“ Damit hat sie offenbar die Absage an ein sozialistisches System, die Freigabe der Preise und andere Maßnahmen mit dem Untergang Deutschlands gleichgesetzt. Wie wir längst wissen, ist es ganz anders gekommen. Deutschland, genauer gesagt sein westlicher Teil, erlebte einen in aller Welt bewunderten Aufstieg. Millionen Flüchtlinge wurden integriert. Was als „Wirtschaftswunder“ tituliert wurde, war nicht zuletzt Ergebnis der von Erhard geprägten Wirtschaftspolitik. Vor diesem Erfolg mussten selbst Konrad Adenauer und die von ihm protegierte Industrielobby kapitulieren.

Man sollte annehmen, damit habe sich die Soziale Marktwirtschaft ein für alle Mal in die wirtschaftspolitischen Gene der Deutschen eingegraben. Wie Umfragen aus der Vergangenheit belegen, kann davon jedoch nicht die Rede sein. Es waren die Segnungen der Marktwirtschaft, die gerne mitgenommen wurden, für die Freiheit des Marktes konnten sich die Deutschen in ihrer Mehrheit nie wirklich begeistern. Das ist umso erstaunlicher, oder sollte man sagen befremdlicher, als im anderen Teil Deutschlands ein ganz anderes Regime seine hoffnungslose Unterlegenheit, wirtschaftlich wie sozial, geradezu demonstrativ belegte. Dabei haben Ostdeutsche, also gerade diejenigen, die Jahrzehnte unter dem eklatanten Versagen der Planwirtschaft gelitten haben, bis heute nur sehr bedingt ihren Frieden mit der Marktwirtschaft machen können.

Aber auch in Deutschland insgesamt fällt die Zustimmung zu unserer Wirtschaftsordnung alles andere als überwältigend aus. Es gibt Studien, die zeigen, dass eine Mehrheit der Bundesbürger – nämlich 65 Prozent – die Verhältnisse hierzulande für ungerecht (Allensbach 2013) hält. Mit dem Begriff „soziale Gerechtigkeit“ verbinden die Marktwirtschaft gerade einmal 12 Prozent. Vor dem Hintergrund eines Bundestagswahlkampfs, in dem sich die Parteien mit dem Verspechen, „mehr Gerechtigkeit“ zu schaffen, geradezu überboten haben, mag das nicht weiter überraschen. Trotz gravierender Einschnitte in das Marktgeschehen und willkürlich verteilter Wohltaten im Rentensystem hat das Trommelfeuer in den Medien über unsere ungerechte Gesellschaft nicht nachgelassen. Da fügt es sich gut, wenn mit dem Buch von Thomas Piketty das Thema auch international in den Brennpunkt des Interesses gerückt ist. (Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Piketty die Situation in Deutschland im internationalen Vergleich keineswegs als besonders kritisch bewertet.)

Man sollte Umfrageergebnisse nicht zu ernst nehmen, aber die skeptische Haltung der Deutschen zur Sozialen Marktwirtschaft ist keineswegs eine Erscheinung unserer Tage. Zur Zeit der Reformen der Währung 1948 und der Wirtschaft gab es eine deutliche Mehrheit (70 Prozent) gegen die Freigabe der Preise. Für jemanden, der selbst noch erlebt hat, wie sich plötzlich die Schaufenster füllten und im Metzgerladen aus einem Bittsteller ein Kunde wurde, bleibt dies bis heute ebenso unverständlich wie das Ergebnis einer Umfrage (Allensbach) im Jahre 1969, bei der sich immer noch 60 Prozent der Westdeutschen für die staatliche Kontrolle der Preise entschieden. Muss man sich dann wundern, wenn sich heute über 80 Prozent für den Mindestlohn und nicht viel weniger (73 Prozent, infratest dimap) für einen Mietpreisstopp aussprechen?

Alle negativen Erfahrungen mit der Wohnungsbewirtschaftung ändern nichts daran, dem Markt zu misstrauen und vom Staat zu erwarten, er könne allen billigen und guten Wohnraum liefern. Aber auch die Politik tut sich langfristig keinen Gefallen, wenn sie den Bürgern mehr verspricht, als sie halten kann. Und es sind nicht nur bevorstehende Wahlen, die eine kaum zu bändigende Versuchung verkörpern, neue Wohltaten zu verheißen. Wenn die Hybris der Politik, das Wirtschaftsgeschehen quasi beliebig gestalten zu können, auf die Erwartung der Bürger trifft, der Staat werde es schon richten, ist die freiheitliche Gesellschaft in Gefahr. Die Enttäuschung der Menschen kann aber nicht ausbleiben. Politikverdrossenheit ist die fast zwangsläufige Folge. Ich will nicht spekulieren, wohin schließlich die wachsende Unzufriedenheit der Gesellschaft führten könnte.

Man muss hier nicht gleich an Aufstand und Revolution denken. Das Vertrauen in die fürsorgliche Natur des Staates führt eher in eine Welt lähmender Lethargie. Alexis de Tocqueville hat diese Gefahr eindrucksvoll beschrieben: „… der Souverän breitet … seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes aus; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz aus verwickelter, äußerst genauer und einheitlicher Vorschriften, die die ursprünglichsten Geister und kräftigsten Seelen nicht zu durchbrechen vermögen, um sich über die Menge hinauszuschwingen; er bricht ihren Willen nicht, aber er weicht ihn auf und beugt und lenkt ihn; er zerstört nicht, er hindert, dass etwas entstehe; er tyrannisiert nicht, er hemmt, er drückt nieder, er zermürbt, er stumpft ab, und schließlich bringt er jedes Volk soweit herunter, dass es nur noch eine Herde ängstlicher und arbeitsamer Tiere bildet, deren Hirte die Regierung ist“. Wüsste man nicht, dass dieses Zitat aus einem Werk aus dem Jahre 1848 stammt („Über die Demokratie in Amerika“), man könnte es für einen aktuellen Kommentar zum vereinten Wirken europäischer und nationaler Politik, oder besser Bürokratie halten.

Es wäre allzu leicht und vordergründig, die im Detail mitunter groteske und in der Summe beängstigende Fülle von Vorschriften und Verboten einfach als Ausfluss von Allmachtsphantasien der Politik zu qualifizieren. Hinter jeder einzelnen Bestimmung steht nicht nur eine Partei oder ein Politiker, getragen wird diese Regulierungswut letztlich von den Wünschen einer mehr oder weniger großen Zahl von Bürgern. Und häufig, wenn nicht in den meisten Fällen, steht dahinter der Wunsch nach Abwehr von vermeintlichen oder tatsächlichen Gefahren, das Bedürfnis nach Sicherheit.

Dieser Wunsch ist nun alles andere als unverständlich. Wer möchte sich schon ungeschützt den Zufällen des Schicksals aussetzen? Schließlich ist es eine fundamentale Aufgabe des Staates, seine Bürger vor Gefahren wie Krieg, Seuchen etc. zu bewahren. Dieser Absicht sind jedoch Schranken gesetzt. Das Leben an sich ist ein Risiko. Der Versuch, alle denkbaren Risiken auszuschalten, stößt auf unerbittliche Grenzen. Der Ehrgeiz, diese zu überwinden, muss scheitern. Er zerstört am Ende das Vertrauen in den Staat, der falsche Hoffnungen in die Welt gesetzt hat. Die Erwartung auf allumfassenden Schutz durch den Staat hat darüber hinaus noch einen anderen Preis, nämlich den der Stagnation und des Rückfalls hinter bereits einmal erreichten Lebensstandard. Wo wären wir, wenn Prometheus uns in Sorge um all das Unheil, das man mit der vom Himmel geholten Innovation auch anrichten kann, nicht das Feuer gebracht hätte? So bleibt es denn eine immerwährende Herausforderung, die Grenzen zwischen Streben nach Sicherheit und dem mit dem Fortschritt unvermeidlich verbundenen Risiko auszuloten. Das größte Risiko, das eine Gesellschaft eingehen kann, läge darin, sich jedem Fortschritt zu verweigern.

Die Ambivalenz in der Einstellung der Deutschen belegt die bereits erwähnte Allensbach-Umfrage aus dem Jahre 2013, in der zwar 81 Prozent der Befragten „Bürokratie“ mit einem staatlich organisierten Wirtschaftssystem verbinden, aber gleichzeitig 51 Prozent „Sicherheit“ und 43 Prozent „soziale Gerechtigkeit“ als positive Begleiterscheinung attestieren (gegenüber 31 Prozent und 12 Prozent in einer Marktwirtschaft). Auch wenn es den meisten nach eigener Einschätzung privat gut geht, dominiert doch immer wieder in Befragungen die Sorge, dieser Wohlstand könne in der Zukunft gefährdet sein und nur der Staat könne am Ende Sicherheit vor sozialem Abstieg, vor Arbeitslosigkeit und sonstigen Gefahren garantieren. So kann es nicht verwundern, wenn als eine der wichtigsten Errungenschaften der ehemaligen DDR die Sicherheit des Arbeitsplatzes an vorderster Stelle genannt wird. Mit welchen Kosten diese „Sicherheit“ erkauft wurde, gerät darüber ebenso in Vergessenheit wie das daraus resultierende beklagenswert niedrige Niveau des Lebensstandards und der am Ende völlige Bankrott des Systems, der durch die Wiedervereinigung sozusagen im letzten Moment überdeckt wurde.

Die Veranstaltung am 7. November 2014 im Deutschen Bundestag zum 25. Jahrestag des Falls der Mauer hob diese fatale Mentalität wieder einmal ins Licht der Aktualität. So verwies Gregor Gysi auf den Befund, nach dem die Ostdeutschen eine ausgeglichene Bilanz ziehen, jedenfalls rein zahlenmäßig, zwischen den Punkten, in denen es ihnen nach der Wiedervereinigung besser oder schlechter geht. Zur letzteren Kategorie zählen erwartungsgemäß sichere Arbeitsplätze und niedrige Mieten. Längst vergessen ist offenbar der beklagenswerte Zustand der Wohnungen, ganz davon abgesehen, dass die Zuweisung knappen Wohnraums ein weiteres Mittel der Unterdrückung bzw. Bevorzugung war. Wo aber ist der Ordnungspolitiker in Deutschland, der überzeugend auf den immanenten Konflikt zwischen dieser „Sicherheit“ und Freiheit hinweist? Es bedurfte schließlich einer 1.400 km langen Hochsicherheitsgrenze, bewehrt mit 50.000 Polizisten, um die Menschen an der Flucht aus diesem Arbeiter- und Bauernparadies zu hindern. Fehlt es nur am Verständnis der Interdependenz der Ordnungen (Walter Eucken) oder ist es einfach Ausdruck der Angst, in den Medien als unsozial oder schlimmer abgestempelt zu werden, wenn man auf die unvermeidliche Kehrseite solcher „Errungenschaften“ verweist? Es liegt mir völlig fern, die Gefahr der Wiederholung der sozialistischen Planwirtschaft auf gesamtdeutschem Boden an die Wand zu malen. Aber gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Deutschland muss die Einstellung der Deutschen zur Sozialen Marktwirtschaft mehr als enttäuschen. Für die Zukunft unserer Wirtschaftsordnung verheißt das jedenfalls nichts Gutes.

Die geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft haben ihre Konzeption aus geschichtlichen Erfahrungen und theoretischen Überlegungen heraus entwickelt. Die Mängel des Interventionismus der Zwischenkriegszeit und der anschließenden Kriegswirtschaft haben Männer wie Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Franz Böhm und eben nicht zuletzt Ludwig Erhard zu der Überlegung geführt, dass nur eine Wirtschaftsordnung, die den Staat darauf beschränkt, einen rechtsstaatlichen Rahmen zu setzen, in dem die Individuen Raum für die Entfaltung ihrer Fähigkeiten haben, mit einer Gesellschaft freier Bürger kongruent ist. Nur ein Staat, der sich auf diese Rolle konzentriert, ist ein starker Staat, ein Staat, der nicht dem Druck der Interessen aller möglichen Gruppen ausgesetzt ist. Im Rahmen seiner Möglichkeiten ist der Einzelne für sein eigenes Schicksal verantwortlich. Der Anreiz, Erfolg zu haben und – natürlich nach Steuern – die Früchte genießen zu dürfen, ist die Grundlage für Fortschritt und Wohlstand für alle. Unabdingbar ist dabei aber gleichzeitig, als Korrelat, das Risiko zu scheitern bis hin zum Bankrott. Denn der Markt kann seine Rolle im Interesse der Gemeinschaft nur dann befriedigend erfüllen, wenn die Freiheit der Handlung mit der Haftung für die Folgen verbunden ist.

Dieses Prinzip wurde auf den Finanzmärkten durch die Problematik des „too big or too interconnected to fail“ außer Kraft gesetzt. Einen krasseren Verstoß gegen die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft kann man sich schwerlich vorstellen. Nichts hat der Akzeptanz der Marktwirtschaft mehr geschadet als der unvermeidliche Einsatz von Steuergeldern, um den Zusammenbruch des Finanzsystems mit verheerenden Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft zu verhindern. Eine Wiederholung solcher durch die Systembedingtheit erzwungenen Rettungsmaßnahmen würde nicht nur das Vertrauen in die Marktwirtschaft zerstören, sondern auch den Glauben an die Wirksamkeit der Demokratie stark beschädigen. Trotz aller Regulierungen ist die kompromisslose Verknüpfung von Handlungsfreiheit und Haftung noch keineswegs vollständig geglückt. Auch hier bedarf es der Verantwortung der Einzelnen für ihre Handlungen. Wer sich von scheinbar attraktiven Renditen verführen lässt, muss mit der Gefahr des Verlustes rechnen und kann nicht andere dafür verantwortlich machen.

„Der tiefe Sinn der Sozialen Marktwirtschaft liegt darin, das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs und der sittlichen Verantwortung jedes Einzelnen dem Ganzen gegenüber zu verbinden (Ludwig Erhard 1957).“

Die Soziale Marktwirtschaft überlässt aber den Einzelnen nicht einfach seinem Schicksal. Die soziale Komponente, systemgerecht praktiziert, beruht auf drei Säulen. Zum einen der Fürsorge für alle, die aus unverschuldeten Gründen nicht in der Lage sind, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Zum anderen kann allein die Wettbewerbswirtschaft ein wirtschaftliches Niveau sichern, das generelle staatliche Fürsorge nicht nur überflüssig macht, sondern auch als hinderlich für private Verantwortung sieht. Schließlich ist ein Bildungssystem unerlässlich, das jedem die Chance eröffnet, seine Fähigkeiten zu entfalten und den entsprechenden Platz in der Gesellschaft zu finden. Auch hier ist nicht alleine der Staat gefordert. Jeder Einzelne, von den Eltern bis zu den Kindern, ist nach Kräften angehalten, die individuellen Talente zu entwickeln und auszuschöpfen.“Sinn der Sozialen Marktwirtschaft ist es, das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“ – so Alfred Müller-Armack, auf den der Begriff zurückgeht.

Das Epitheton hat der Sozialen Marktwirtschaft allerdings Kritik von den Anhängern der „reinen“ Marktwirtschaft eingetragen, die Maßnahmen der Sozialpolitik grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. Und in der Tat hat sich die „soziale Komponente“ von Anfang an und im Verlauf immer mehr als Einfallstor für alle möglichen Eingriffe erwiesen. Erhard war sich dieser Gefahr durchaus bewusst. So hat er die Aussage Müller-Armacks in folgender Weise ergänzt bzw. korrigiert: „Der tiefe Sinn der Sozialen Marktwirtschaft liegt darin, das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs und der sittlichen Verantwortung jedes Einzelnen dem Ganzen gegenüber zu verbinden.“

Lassen Sie mich mit einem weiteren Erhard-Zitat schließen: „Mit der Abhängigkeit vom Kollektiv und vom Staat gewinnt der einzelne Mensch nicht Sicherheit, sondern er geht umgekehrt ihrer verlustig. Der zur Vermassung hindrängende Wohlfahrtsstaat bringt dem Menschen nicht Wohlfahrt, sondern zuletzt immer nur Armut, Unordnung und sklavische Abhängigkeit“ (Ludwig Erhard 1953). Wer dieser für das Erhard’sche Denken fundamentalen Aussage nicht zustimmt, hat das Recht verwirkt, sich auf Erhard zu berufen.

Dieser Beitrag ist eine Festrede, die Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otmar Issing bei der Verleihung des Fürther Ludwig-Erhard-Preises am 29. Juni 2015 in Fürth gehalten hat.

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