Jede Zeit hat ihren Schlachtruf. Derzeit ist es der von der totalen Digitalisierung bis hin zu De-Materialisierung und „disruptiven“ Geschäftsmodellen, die herkömmliche zerstören.

Sollten Sie diesen Text auf einem Smartphone lesen, dann tragen Sie gerade eine komplette Kofferraumladung von Gegenständen mit sich herum: eine Schreibmaschine, eine riesige Sammlung von Dia-Kästen mit dem dazugehörigen Dia-Projektor, ein 25-bändiges Lexikon, eine komplette Bibliothek, einen Fotoapparat, einen Plattenspieler, ein Tonbandgerät, ein Diktiergerät, ein Kursbuch der Deutschen Bahn … Jetzt reicht es aber, der Kofferraum ist voll. Ganz nebenbei können Sie mit dem Gerät auch telefonieren. Das alles – und vermutlich noch viel mehr – beinhaltet Ihr Smartphone. Bildlicher kann man sich die De-Materialisierung nicht vorstellen.

Noch immer fühlen sich viele deutsche Mittelständler sicher. Sie glauben an ihre Nische, in der sie wegen ihrer Leistungsfähigkeit und Spezialisierung unangreifbar sind. Doch die Vielzahl der Software-Anwendungen erfasst immer weitere Bereiche der herstellenden Industrie, macht Geräte und deren Hersteller überflüssig. Es ist ja nicht so, dass nicht mehr fotografiert wird – aber eben immer häufiger mit dem Smartphone, das längst eine technische Qualität bietet, die noch vor wenigen Jahren Standard für Profis war.

Gewohnheit statt Gebrauchsnutzen

Wir nutzen nicht mehr die Geräte – aber das, was sie können: das Kursbuch, die Literatur, die Musik. Die Änderung erfolgt schleichend – und trotzdem blitzschnell. Das Praktischere setzt sich durch. Ich persönlich liebe meine Leica, ihr Aussehen, ihr Gefühl der Perfektion, das sie mir vermittelt, wie sie schwer in der Hand liegt, den satten Klang des Auslösers. Aber leider ist mir analog längst zu mühsam. Und so geht es immer mehr Menschen mit immer mehr Gütern und Dienstleistungen. Es ist wunderschön, bei einer Tasse Kaffee morgens in der Zeitung zu blättern: das Rascheln, das Knistern; schon der Geruch bedruckten Papiers hat eine ungeheure Faszination. Leider bin ich meistens unterwegs, wenn ich Zeit habe, eine Zeitung zu lesen. Und zu Hause verstopft sie meinen Briefkasten und ist nach einigen Tagen das Signal für Einbrecher: freie Bahn, keiner zu Hause. Also wird die Zeitung verschwinden – aber wir werden weiter lesen und uns weiter informieren. Nur eben anders: de-materialisiert.

Wie wir leben und wirtschaften, ist häufig reine Gewohnheit, ist habituell. Kinder sind da eher unbefangen. Sie nutzen das Neue zuerst, bei ihnen ist das Neue habituell, nicht das Alte. Mit dem 3-D-Drucker werden viele metallverarbeitende Unternehmen ihre Basis verlieren. Das derzeit mit großem Können und Aufwand hergestellte Werkstück wird man selber herstellen können: vor Ort und ohne Fräsen, Bohren, Abtragen, Formen und Umformen – es kommt aus der Maschine genauso, wie der alte Dreher es nie hingekriegt hätte. Sind wir darauf vorbereitet? Ist es nicht nur keine Gefahr, sondern sogar eine Chance?

Die Prozesse werden „disruptiv“. Häufig ist damit gemeint, dass das Geschäftsmodell zerstört wird. Aber eigentlich bedeutet es nur, dass die Geschäfte nicht mehr kontinuierlich laufen, sondern sprunghaft. Es geht nicht mehr um ein paar Prozent mehr oder weniger Wachstum. Es geht um alles – oder nichts. Das Elektro-Auto ist kein Benziner mit einem etwas anderen Motor, sondern es ist ganz anders. Oder kaufen die Menschen zukünftig gar keine Autos (= Güter) mehr, sondern nur noch Verkehrsleistung (= Dienstleistung), weil per App jederzeit ein Auto verfügbar wird? Das verändert die Struktur der Märkte: Nicht mehr der Hersteller ist wichtig, sondern derjenige, der Kontakt zum Kunden hat, und das muss nicht mehr die Autofabrik sein. Darin liegt für die gesamte Wirtschaft die Herausforderung.

Ludwig Erhard: Meister der Veränderung

Ludwig Erhard hat im Nachkriegsdeutschland wesentlich dazu beigetragen, dass eine neue Währung entstand, die mit ihrer Solidität beispielhaft wurde. Mit der D-Mark schuf er das Vertrauen, das jedes wirtschaftliche Handeln braucht. Er hat zudem die Preiskontrollen und Versorgungsämter, die Zuteilung und Lebensmittelmarken abgeschafft. Viele Menschen waren damals überzeugt, dass das nicht gehen und dass alle verhungern würden. Doch alles wurde besser.

Erhard hat sich nicht mit dem beschäftigt, was verschwindet. – Das wäre ja einfach: Welche Unternehmen und welche Jobs voraussichtlich verschwinden werden, das kann man sich leicht vorstellen. – Sein Verstand war vielmehr damit beschäftigt, sich zu überlegen, was sein könnte. Das ist schwer vorstellbar, meist ist es Phantasterei. Wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen, hat einer seiner Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers, Helmut Schmidt, einmal gesagt. Ohne Visionen zu fahren, ist aber wie eine Reise in den Urlaub ohne Vorstellung vom Ziel. Das kann nicht gutgehen – Arbeitslosigkeit und explodierende Staatsverschuldung kommen zwangsweise zustande, wenn Visionen fehlen. Eine Vision braucht aber Vertrauen in die Erfindungskraft und Kreativität des Menschen. Sie ist nicht durch ein Ministerium darstellbar, das fördert, was es kennt und sieht. Das Neue entsteht in den Köpfen kreativer Menschen, die an die eigene Zukunft glauben. Sie entwerfen die Landkarte der Zukunft.

Vor 150 Jahren konnte man sich nicht vorstellen, dass irgendwann 80 Prozent der Bevölkerung außerhalb der Landwirtschaft ihr Auskommen finden werden. Und dass in Deutschland nach der Automatisierungswelle der 1970er heute wieder Arbeitskräftemangel herrschen würde – das hätte damals kein Gewerkschaftler geglaubt, und deshalb wurden die Anfänge der Datenverarbeitung in Deutschland und Europa von den Gewerkschaften bekämpft, bis die damals sehr erfolgreichen Unternehmen des „alten Kontinents“ von Unternehmen wie Google und Apple buchstäblich überrollt wurden. Damals wurde die 35-Stunden-Woche eingeführt, weil die Arbeit ausgehen würde. Sie ging aber nicht aus, sie wurde lediglich anders. Jetzt beginnt die Debatte sich zu wiederholen: mit ängstlicher Verweigerungshaltung gegenüber unvermeidbaren Veränderungen.

Mut ist gefordert

Übrigens: Königin Elisabeth I. von England hat sich geweigert, den ersten modernen Webstuhl zu erlauben. Sie hatte Angst vor der Wut der Weber. Die Maschine setzte sich trotzdem durch und löste die industrielle Revolution aus, die England zur Weltmacht machte. Allerdings nur, weil England anders als andere Staaten nicht in den Händen einer feudalen Oligarchie war, sondern weil England neue Erfindungen zuließ, Elisabeth zum Trotz. Es herrschte ein Gründergeist. Und wie ist es in Deutschland? Wir wissen, was wir nicht wollen. Aber das Neue zuzulassen, bedeutet, einen Weg zu gehen, für den es noch keine Landkarte gibt. Und das verlangt Mut. Angst ist ein schlechter Ratgeber, denn Angst blockiert.

Einmauern klappt nicht mehr. Die Welt der Veränderung hat noch jede chinesische Mauer überrannt. Die digitalen Horden werden den Sieg davon tragen. Es gilt, die Veränderung selbst vorzunehmen, sich vom schönen Leben der schrittweisen Veränderung zu lösen und Brüche selbst herbeizuführen. Und zwar radikale Brüche, ohne die üblichen Bremsmanöver, wie die Deutschen sie mittlerweile so gut beherrschen. Phantasie, Ehrgeiz, Vertrauen in den Erfindungsreichtum der Menschen – das ist das richtige Rezept. Und wenn man noch die Rahmenbedingungen schafft, in denen sich dies wirtschaftlich entwickeln kann, dann steht dem Erfolg nichts mehr im Weg. Daher sollten wir doch manchmal Ludwig Erhard zu Rate ziehen. Er weiß, wie das mit der Materialisierung des Disruptiven zum Wohle aller geht.

Der Beitrag basiert auf dem Vorwort von Roland Tichy zum Buch: Karl-Heinz Land und Ralf T. Kreutzer, Dematerialisierung. Die Neuverteilung der Welt in Zeiten des digitalen Darwinismus, FutureVisionPress, Köln (im Erscheinen).

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