Otmar Issing, Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung, wirft einen kritischen Blick auf die Programme der Europäischen Zentralbank. Seine Mahnung lautet: Solidarität führt über Staatshilfen, die von den nationalen Parlamenten gebilligt werden müssen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zu Recht von der größten Krise der Nachkriegszeit gesprochen. Das gilt zuerst und vor allem für die Bedrohung für Leib und Leben durch die Pandemie. Gleichzeitig erleidet Deutschland zusammen mit vielen anderen Ländern einen negativen ökonomischen Schock in einem Ausmaß, das die schwere Krise von 2008 bei Weitem übertrifft. Ein Blick auf die leeren Innenstädte verdeutlicht die gewaltige Dimension: Millionen Existenzen, vom Einzelhandel bis zum Restaurant oder Friseur, sind bedroht. Es liegt auf der Hand, dass die notwendigen Maßnahmen den Einsatz immenser finanzieller Mittel erfordern. Darüber hinaus bedarf es vorübergehender Ausnahmen auf vielen Gebieten wie der Steuerpolitik, aller möglichen regulatorischen Vorschriften und rechtlicher Hemmnisse. Kurzum, die Wirtschaftspolitik ist mit einer Mammutaufgabe konfrontiert. Nur eine genaue Kenntnis der komplexen Strukturen der Wirtschaft ermöglicht zielgenaue Maßnahmen.

Diese Krise ist schon deshalb in erster Linie die Stunde der nationalen Wirtschaftspolitik. Deutschland befindet sich in der beneidenswerten Lage, nach Jahren der Überschüsse im öffentlichen Haushalt über einen großen finanziellen Spielraum zu verfügen. Im Gefolge der Krise wird der Schuldenstand wieder deutlich ansteigen. Aber es macht eben einen erheblichen Unterschied, ob die absehbaren und notwendigen Defizite in den öffentlichen Haushalten von einem Ausgangspunkt von rund 60 Prozent der Staatsschuld (im Verhältnis zum Sozialprodukt) oder von sehr viel höheren Schuldenständen aus starten.

Die Europäische Union als Solidargemeinschaft

Es entbehrt nicht der Ironie, wenn sich jetzt jene Vertreter aus Politik und Wissenschaft dieser guten Ausgangslage rühmen, die gestern noch die Schuldenbremse als wachstumsfeindlich verteufelt und nach schuldenfinanzierten Investitionsprogrammen gerufen haben. Fiskalpolitische Regeln wie die Schuldenbremse enthielten im Übrigen schon immer Ausnahmeklauseln für den Notfall.

Die Stunde der nationalen Wirtschaftspolitik auszurufen, heißt nicht, die europäische, ja globale Dimensionen der Krise zu übersehen. Es ist wahr, das Virus macht nicht an den nationalen Grenzen halt. Grenzkontrollen und administrative Eingriffe zwischen den Regierungen abzustimmen, sollte in der EU selbstverständlich sein.

Die EU ist dem Vertrag und dem politischen Willen nach eine Solidargemeinschaft. In der Krise kann der Ruf nach Einlösung dieses Versprechens nicht ausbleiben. Gefordert wird in erster Linie finanzieller Beistand. Wenig überraschend kommt dieses Postulat vor allem aus solchen Ländern, die sich in der Vergangenheit über viele Jahre immer weiter verschuldet haben. Die mit der notwendigen Krisenbekämpfung einhergehende Zunahme des bereits hohen Schuldenbergs führt ein Land zwangsläufig immer näher an den Punkt, von dem aus es so gut wie unmöglich wird, trotz der schon lange Jahre anhaltend niedrigen Zinsen die Last der Schulden zu verkraften.

Mit der Ankündigung eines neuen Programms zum Ankauf von Anleihen versucht die EZB vor allem, den Anstieg der Zinsen hochverschuldeter Länder zu bremsen. Die EZB begründet diese Entscheidung mit ihrer Verantwortung, den Zusammenhalt des Euroraums beziehungsweise die Existenz des Euros zu verteidigen und den Transmissionsmechanismus der Geldpolitik zu sichern. Dieses Argument ändert aber nichts daran, dass, ökonomisch gesehen, vor allem beabsichtigt ist, einzelne Länder vor dem Kollaps ihrer öffentlichen Finanzen zu bewahren. Was ist das anderes als monetäre Staatsfinanzierung, die der EZB dem Vertrag nach verboten ist?

Wahre Solidarität muss den Weg durch die nationalen Parlamente gehen

Wenn Solidarität gefordert und gewährt wird, kann dies nach europäischem Recht und Gesetz im Wesentlichen nur über staatliche Hilfen geschehen, die von den nationalen Regierungen und Parlamenten gegenüber ihren Wählern verantwortet werden müssen. In einem solchen Prozess zeigt sich wahre Solidarität. Vor diesem Test scheint die Politik offenbar aus Furcht vor den Wählern zurückzuschrecken. Stattdessen werden alle möglichen Instrumente diskutiert, die den Transfer zugunsten hochverschuldeter Länder kaschieren sollen. Erwartungsgemäß kommen jetzt wieder Eurobonds ins Gespräch, die passenderweise dann mit neuem Namen – Pandemie-Fonds oder wie auch immer – Solidarität in einer Notsituation ausdrücken sollen. Aber auch noch so einfühlsame Namen können nichts daran ändern, dass der mit diesem Instrument verbundene fiskalische Transfer der demokratischen Legitimierung durch die nationalen Parlamente bedarf.

Der Notfall „Pandemie“ rechtfertigt nicht den Rechtsbruch nach dem Motto „Not kennt kein Gebot“. Wollen die Mitgliedstaaten wirklich Solidarität zeigen, dann dürfen sie den Weg der parlamentarischen Legitimierung nicht scheuen. Alle Wege an dieser Hürde vorbei entlarven die Bekundungen der Solidarität mehr oder weniger als Phrasen, unterminieren das Vertrauen in die EU und noch mehr in den Euroraum als Gemeinschaft, gegründet auf Recht und Verträgen, und befördern das Geschäft populistischer Europa-Gegner.

Prof. Dr. Otmar Issing, Präsident des Center for Financial Studies, war Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank.

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