Tatsächlich ist kaum ein früherer Politiker im aktuellen Diskurs so präsent wie Ludwig Erhard, stellt Roland Tichy fest. Der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung ruft die wichtigsten Positionen des Begründers der Sozialen Marktwirtschaft in Erinnerung und ordnet sie in die heutige Zeit ein.

Es gibt Erhard-Preise, Erhards Erben, Erhard-Seminare, demnächst ein Museum und einen Lehrstuhl. Es gibt ihn in klein für die Modelleisenbahn und als Statue in Lebensgröße. Tatsächlich ist kaum ein früherer Politiker so präsent wie Ludwig Erhard.

Dabei dürfte es Erhard heute so gar nicht geben – schon mit seiner ewig qualmenden Zigarre wäre er eine Provokation für Gesundheitsbewusste und Tugendwächter. Aber auch seinen Zeitgenossen hat er es nicht leicht gemacht – und noch heute wirkt er vielfach verstörend: für Linke wie Rechte. Liegt darin die eigentliche Faszination der historischen Person?

Persönliche Haftung ist Basis

Viele Aussagen Ludwig Erhards lesen sich wie eine neoliberale Vorlesung an der Uni. Erhard sah in der Marktwirtschaft den Schlüssel zum Erfolg. Er plädierte für eine Privatwirtschaft, keine Staatswirtschaft. Aber die persönliche Handlungsfreiheit setzte für ihn uneingeschränkt die persönliche Haftung voraus – auch beim Unternehmer: „Das ist sein Schicksal, denn er ist nur so lange freier Unternehmer, wie er Risiken und Chancen gleichermaßen tragen will. Es geht nicht an, dass er nur die Chancen wahrnehmen und die Risiken … durch die Anrufung des Staates abwenden will.“

Da schmettert sein Hauptmotiv in das gemütliche Hauskonzert hinein: Es geht um persönliche Verantwortung. Staatshilfen, wenn es nicht klappt für Unternehmen, goldener Handschlag für Manager, die versagen, und Fallschirme für Vorstände, die sich bei Pleiten davonstehlen, während ihr Unternehmen mitsamt den Mitarbeitern kracht: Das hat er immer scharf kritisiert. Die Freiheit ist untrennbar mit persönlicher Haftung und Eigenverantwortung verbunden.

„Das ist sein Schicksal, denn er ist nur so lange freier Unternehmer, wie er Risiken und Chancen gleichermaßen tragen will.“ (Ludwig Erhard 1954)

Der Ordoliberale Walter Eucken meinte dazu: „[Die Haftung soll] bewirken, dass die Disposition des Kapitals vorsichtig erfolgt. Investitionen werden umso sorgfältiger gemacht, je mehr der Verantwortliche für diese Investitionen haftet.“ Unternehmerisches Handeln ist eben kein Glücksspiel, bei dem der Gewinner Geld abschleppt, der Staat den Einsatz finanziert.

Auch Wilhelm Röpke formulierte mitten im Weltkrieg 1942 für die Zukunft: „Da nun wahrscheinlich die Furcht vor Verlust immer größer ist als das Streben nach Gewinn, kann man sagen, dass unser Wirtschaftssystem letzten Endes durch den Konkurs reguliert wird.“ Konkurs – heute ein schreckliches Wort. Aber nur wenn diese Gefahr und damit die persönliche Haftung besteht, kann sich die Wirtschaft immer wieder erneuern. In einer Wirtschaftsordnung, die sich Marktwirtschaft nennt, darf es nie eine Diskussion über die staatliche Rettung privatwirtschaftlicher Unternehmen wie Opel, Karstadt, Schlecker geben.

Aber nicht nur Unternehmer tragen Verantwortung: Ludwig Erhard hat immer darauf hingewiesen, dass jede Sozialleistung von den Bürgern finanziert werden muss und dass ein überbordender Sozialstaat die Leistungsbereitschaft abwürgt: „Solche ‚Wohltat‘ muss das Volk immer teuer bezahlen, weil kein Staat den Bürgern mehr geben kann, als er ihnen vorher abgenommen hat – und das noch abzüglich der Kosten einer zwangsläufig immer mehr zum Selbstzweck ausartenden Sozialbürokratie. Nichts ist darum … unsozialer als der sogenannte ‚Wohlfahrtsstaat‘, der die menschliche Verantwortung erschlaffen und die individuelle Leistung absinken lässt.“

Subsidiarität und Wettbewerb

Wettbewerb war für Erhard kein Zustand, den man staatlich abfedert oder beseitigt. Im Gegenteil: Für ihn stand die Etablierung von Wettbewerb an oberster Stelle. Begriffe wie soziale Gerechtigkeit, Verteilungsfragen und soziale Sicherung wurden bei ihm nachrangig und mit der Warnung vor dem lähmenden Sozialstaat behandelt: „Ich selbst bin zum Beispiel davon überzeugt, dass im wirtschaftlichen Leben der echte, nicht manipulierte Wettbewerb das beste und auch wohltätigste Ausleseprinzip verkörpert, während andere der Meinung sind, dass um der ‚Gleichheit‘ willen die Lebensmöglichkeiten menschlicher Individuen obrigkeitlich gesteuert werden müssen … So sehr die Solidarität zu loben ist, jeden Menschen vor Not und Elend bewahrt zu wissen, so notwendig bleibt es doch auch, neben die Solidarität das Gebot der Subsidiarität zu stellen.“ Subsidiarität heißt für ihn, dass der staatliche Zwangsschutz dort Halt zu machen hat, „wo der Einzelne und seine Familie noch in der Lage sind, selbstverantwortlich und individuell Vorsorge zu treffen“.

„Nichts ist … unsozialer als der sogenannte ‚Wohlfahrtsstaat‘, der die menschliche Verantwortung erschlaffen und die individuelle Leistung absinken lässt.“ (Ludwig Erhard 1958)

Aus dieser Überlegung hat Erhard die Leitlinie für die Staatstätigkeit abgeleitet: „Es muss daher immer wieder betont werden, dass es die eigentliche und vornehmste Aufgabe des Staates ist, einen Ordnungsrahmen zu schaffen, innerhalb dessen sich der Staatsbürger frei bewegen dürfen soll. Und das wieder erfordert die Handhabung einer Wirtschaftspolitik, in der die wirtschaftenden Menschen aller sozialen Schichten dessen gewiss sein dürfen, nicht ständig unvorhersehbaren politischen Entscheidungen ausgesetzt zu sein.“

Der Staat soll und darf gerade nicht nach Belieben in die Marktwirtschaft hineinregieren, weil er sie dadurch schrittweise und zum Schaden aller zerstört. Dabei legte Erhard sich auch immer wieder mit den Mächtigen der Wirtschaft an. Er formulierte das „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen“, das unmissverständlich „Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken“, verbietet. Punkt. Die Ausnahmen folgen weiter hinten im Gesetz.

Nach Erhards aktiver Zeit gerierte der Staat sich zunehmend als Mitspieler in Wirtschaft und Gesellschaft – und hat seitdem permanent auf Kredite zur Finanzierung seiner selbst geschaffenen Aufgaben zurückgegriffen. Für Erhard war das eine Abkehr von der Sozialen Marktwirtschaft. So schimpfte er 1977: „Die heutige Politik der bewussten Überschuldung ist meiner Ansicht nach eine hochexplosive Politik. … Der deutsche Bürger wird die Schulden zu bezahlen haben.“ Daran ändert auch die Nullzinspolitik der EZB wenig.

Freihandel statt Abschottung

Ludwig Erhard war immer Verfechter von Freihandel. Den Brexit hätte er vermutlich als souveräne und demokratisch legitimierte Entscheidung eines Volkes respektiert. Vielleicht sogar unterstützt, weil er die zahlreichen Marktwidrigkeiten der EU ablehnte. Er hat nicht in nationalstaatlichen Grenzen gedacht, sondern sein Ideal war die Weltgemeinschaft freier Völker, die in freier Entscheidung miteinander Handel treiben – oder es sein lassen.

Er war auch davon überzeugt, dass die Marktkräfte die Länder zur Vernunft zwingen werden. Das wird auch für die USA eintreten: „Selbst wenn wir wider alle Vernunft handeln und gegen alle Warnzeichen blind und taub bleiben – die inneren Gesetze eines weltweiten freien Marktes werden uns zur Besinnung und zur Wiederherstellung einer gedeihlichen Ordnung zwingen.“

Geradezu modern lesen sich Erhards späte Gedanken zum Wirtschaftswachstum. Wachstum war für ihn kein Selbstzweck: „Wohlstand ist eine Grundlage, aber kein Leitbild für die Lebensgestaltung. Ihn zu bewahren ist noch schwerer, als ihn zu erwerben. Deshalb erwächst uns die schwierige Aufgabe, ihn geistig zu bewältigen. Wir müssen die Ansprüche disziplinieren, die Forderungen an uns selbst steigern und die an die Allgemeinheit, verkörpert in Wirtschaft und Staat, mäßigen.“

„Wohlstand ist eine Grundlage, aber kein Leitbild für die Lebensgestaltung. Ihn zu bewahren ist noch schwerer, als ihn zu erwerben.“ (Ludwig Erhard 1961)

In der Tat hat Ludwig Erhard vorausgesehen, dass Menschen auch die Freiheit haben müssen, statt mehr Geld und Einkommen mehr Freizeit, Urlaub und kürzere Arbeitszeit zu wählen: „Mit steigender Produktivität und mit der höheren Effizienz der menschlichen Arbeit werden wir einmal in eine Phase der Entwicklung kommen, in der wir uns fragen müssen, was denn eigentlich kostbarer oder wertvoller ist: Noch mehr zu arbeiten oder ein bequemeres, schöneres und freieres Leben zu führen, dabei vielleicht bewusst auf manchen güterwirtschaftlichen Genuss verzichten zu wollen.“

Dieser Beitrag ist zuerst in der Publikation der Ludwig-Erhard-Stiftung „Wohlstand für Alle – Geht’s noch?“ aus dem Jahr 2017 erschienen.

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