„Das kalte Herz“ – so lautet der Titel eines Buches, in dem der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe die Geschichte des Kapitalismus vorgelegt hat. Obwohl der Kapitalismus die Armut überwunden und Wohlstand geschaffen hat, hat er heute einen schlechten Ruf.

Mit dem Buchtitel spielt Werner Plumpe auf das Märchen von Wilhelm Hauff aus dem frühen 19. Jahrhundert an, in dem der Schwarzwälder Köhler Peter Munk einem Waldgeist sein warmes Herz gegen einen kalten Stein verkauft, um reich zu werden wie die damals bewunderten holländischen Kapitalisten. Munk wird durch den Handel aber zum Unmenschen und erst wieder froh, nachdem es ihm gelungen ist, den Tausch mit einem Trick rückgängig zu machen.

Im Gegensatz zum Märchen zeigt Plumpes Geschichte, wie durch den Kapitalismus in der wirklichen Welt Armut überwunden und Wohlstand geschaffen wurde. Erst der Kapitalismus machte es möglich, dass die Weltbevölkerung auf heute knapp acht Milliarden Menschen ansteigen konnte. Dabei kennt der Kapitalismus viele Varianten und ist äußerst widerstandsfähig. Er kann sich in autoritären Staaten wie dem deutschen Kaiserreich des 19. Jahrhunderts oder dem China unserer Zeit entwickeln, und er kann in Kriegszeiten wie in den 1940er Jahren in den USA liefern, was ein Staat zum Sieg braucht. Nur hemmungslose Gewalt, wie im Kommunismus oder Faschismus, kann ihn außer Kraft setzen. Da die Gewalttäter aber den Ast absägen, auf dem sie sitzen, ist die Auszeit begrenzt.

Liberale Gesellschaftsordnung und Kapitalismus in Verruf

Ermöglicht wurde der Kapitalismus durch die Entwicklung der liberalen Gesellschaftsordnung, zunächst ab Mitte des letzten Jahrtausends vor allem in Großbritannien und dann ab dem 18. Jahrhundert in den USA. Zweck dieser Ordnung ist es, dem Einzelnen die größtmögliche Freiheit zu seiner Entfaltung zu geben. Dazu gibt sich die Gesellschaft allgemeine und abstrakte Regeln, die die Freiheit des Einzelnen nur dort einschränken, wo die Freiheit des anderen beginnt. Von den Bürgern gewählte Parlamente fassen die Regeln in Recht und beauftragen Regierungen mit dessen Durchsetzung.

Über allen herrscht das gefundene Recht, und weder Parlament noch Regierung dürfen die Bürger zu kollektiven Zielen verpflichten. In der Verfolgung ihrer eigenen Wirtschaftsziele haben Einzelne das Kapital geschaffen und die Produktionsweise organisiert, die die kapitalistische Wirtschaftsweise ausmachen. Es ist kein Zufall, dass in der jüngeren Geschichte zunächst das liberale Großbritannien und dann die liberalen Vereinigten Staaten von Amerika zur Weltmacht wurden, während das faschistische Deutschland, die kommunistische Sowjetunion und das Maoistische China in der Versenkung verschwanden.

Und dennoch sind liberale Gesellschaftsordnung und Kapitalismus heute wieder in Verruf. Sie leiden an der Vorstellung, den Menschen ein kaltes Herz einzupflanzen, das ihnen Unglück bringt. Es scheint, dass diese Vorstellung besonders in Zeiten verfängt, in denen die kapitalistische Wirtschaft den Ansprüchen der Bürger nicht genügt. Laut Wikipedia wurde Hauffs Märchen neunmal verfilmt, davon einmal im Jahr nach der Hyperinflation von 1923, einmal im Jahr der Machtergreifung Hitlers 1933, in den Jahren 1950 und 1981 in den wirtschaftlich wenig erfolgreichen Staaten DDR und Sowjetunion; zudem am Ende der von Ölkrisen und schlechter Wirtschaftspolitik gebeutelten siebziger Jahren und dreimal seit der großen Finanzkrise von 2007/2008.

Den vermeintlichen Altruisten geht es um Macht

Wie Peter Munk sind viele Menschen dann unzufrieden und empfänglich für Stimmen, die ihnen einflüstern, ein „wärmeres Herz“ würde sie glücklicher machen. Auch wenn sie oft so daherkommen, sind diese Flüsterer jedoch selten reine Altruisten. Ihnen geht es meist um die Macht, ihre eigenen Vorstellungen und Ziele anderen aufzuzwingen. Wie vom Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson beschrieben, organisieren sie sich dazu in schlagkräftigen Interessengruppen, um Einfluss auf die Regierung zu nehmen. Zur Befriedigung dieser Interessen bringt dann die Regierung das Parlament auf ihre Linie, um Gesetze zu erlassen, die den Bürgern die Ziele der organisierten Gruppen aufzwingen.

In der alten Bundesrepublik waren die Verhältnisse noch übersichtlich. Die Gewerkschaften versuchten, die Regierung über die SPD zu kapern, und die Industrie versuchte dies über die CDU. Sie wurden aber immer wieder durch Politiker wie Ludwig Erhard oder Otto Graf Lambsdorff in die Schranken der liberalen Ordnung verwiesen. Heute buhlt dagegen eine unübersehbare Zahl von Interessengruppen und Minderheiten, von Klimaaktivisten über „Genderist*innen“ bis zu Sozialverbänden, um Einfluss über eine orientierungslose Regierung. Viele Bürger wenden sich ab mit Grausen. Tröstlich ist dabei nur, dass sich Liberalismus und Kapitalismus in der Geschichte als so zäh erwiesen haben, dass sie wohl auch diese Angriffe überwinden werden.

Prof. Dr. Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute und Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Er ist Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung und Vorsitzender der Jury des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik.

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