Die EU hat bis anhin keine Verschuldungs- oder Besteuerungskompetenz. Schon länger wird aber darüber diskutiert, ob eine europäische Fiskalpolitik den am stärksten von einer Krise betroffenen Mitgliedstaaten Unterstützung gewähren soll.

Am 26. März 2021 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) in einem Hängebeschluss dem Bundespräsidenten die Ausfertigung des Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes (ERatG) vorläufig untersagt. Was technisch klingt, ist ein Verfahren von potenziell grosser Tragweite. Denn es geht um nicht weniger als eine zentrale Weichenstellung in der Finanzverfassung der Europäischen Union (EU): Im Frühsommer 2020 verabredeten die Staats- und Regierungschefs ein Konjunkturpaket, das den wirtschaftlich besonders stark von der Corona-Krise betroffenen Mitgliedstaaten helfen soll, die Krise zu bewältigen. Diese Entscheidung kam unter großen Schwierigkeiten zustande.

Bis zuletzt hatten sich die sogenannten „Sparsamen Vier“ – Dänemark, die Niederlande, Österreich und Schweden – geweigert, dem umfangreichen Programm in Höhe von 750 Milliarden Euro zuzustimmen, das den klangvollen Namen Next Generation EU trägt und für sein wichtigstes Instrument, die Aufbau- und Resilienzfazilität, Darlehen und Zuschüsse in Höhe von 627,5 Milliarden Euro, durch Verschuldung der EU finanziert, vorsieht.

Historische Errungenschaft?

Die EU hat bis anhin keine Verschuldungs- oder Besteuerungskompetenz. Der EU-Haushalt wird durch Beiträge der Mitgliedstaaten finanziert. Frühere Episoden – etwa ein anleihefinanziertes Zahlungsbilanzinstrument – sind vom Umfang her nicht mit der Aufbau- und Resilienzfazilität vergleichbar. In der Europäischen Währungsunion (EWU) wird schon lange darüber diskutiert, ob die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) durch eine europäische Fiskalpolitik (Fiskalkapazität) flankiert werden sollte, die in wirtschaftlich schwierigen Phasen den am stärksten von einer Krise betroffenen Mitgliedstaaten Unterstützung gewährt. Es wundert daher nicht, dass diejenigen in Europa, auf den Finanzmärkten und in internationalen Organisationen, die schon lange auf eine Fiskalkapazität in der EU hinarbeiten, die Aufbau- und Resilienzfazilität als historische Errungenschaft in der europäischen Integration feiern.

Die Architektur der EWU sieht eine Vergemeinschaftung der Geldpolitik vor, belässt aber die Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Kompetenz der Mitgliedstaaten, schließt eine Fiskalunion also explizit aus. Dazu sind das Verbot der monetären Staatsfinanzierung und das Nichtbeistandsgebot in den Verträgen festgelegt. Die Mitgliedstaaten sollen mit ihrer Finanz- und Wirtschaftspolitik für Solidität und Wettbewerbsfähigkeit sorgen. Eine Fiskalunion würde hingegen die Anreize dafür nennenswert schwächen.

Dahinter steht das Haftungsprinzip – Haftung und Entscheidung, Haftung und Kontrolle sollen nicht auseinanderfallen. Die Weiterentwicklung der EWU nach der Finanz- und Schuldenkrise zielt mit der Bankenunion und dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) darauf ab, das Haftungsprinzip zu gewährleisten. Krediten des ESM steht Konditionalität in Form von Anpassungsprogrammen gegenüber; die Bankenunion etabliert ein Aufsichts- und Abwicklungsregime, das die Haftung der Steuerzahler in Bankenkrisen möglichst vermeidet, im ungünstigsten Fall weit hinausschiebt.

Vor diesem Hintergrund ist der Hängebeschluss des BVerfG zu verstehen. Die Karlsruher Richter haben den europäischen Einigungsprozess in mehreren Entscheidungen begleitet, letztmals im Mai 2020, und dabei vor allem die Geldpolitik der EZB und die im Zuge der Schuldenkrise eingeführten Rettungsschirme beurteilt. Ein Hängebeschluss hat aber eine neue Qualität. Damit will das BVerfG verhindern, dass ein möglicherweise verfassungswidriger Schritt in Richtung einer Fiskalunion außerrechtlich unternommen und damit faktisch unumkehrbar wird. In früheren Fällen, etwa in seiner Prüfung des Maastricht-Vertrages, bat das BVerfG das Bundespräsidialamt darum, mit der Ausfertigung des Ratifizierungsgesetzes zu warten. Offenbar war dieses Mal ein formaler Hängebeschluss notwendig.

Anreizstruktur

Der Hängebeschluss geht dem Eilverfahren voraus, das aber selbst noch keine Entscheidung in der Hauptsache ist. Weder Hängebeschluss noch Eilverfahren sind ein Präjudiz für die Entscheidung in der Hauptsache. Spieltheoretisch ergibt sich gleichwohl eine klare Anreizstruktur: Im Eilverfahren kann ein positiver Bescheid erwartet werden, wenn Aussicht auf Erfolg im Hauptsacheverfahren besteht.

Zwei Kernfragen wird das BVerfG beantworten müssen. Erstens muss es feststellen, ob die EU mit diesem Eigenmittelbeschluss ultra vires, also außerhalb ihrer Kompetenzen gehandelt hat. Inhaltlich kommt es hier vor allem auf eine Zweckbindung der Aufbau- und Resilienzfazilität an. Sie dient dazu, in der besonderen Notlage der Corona-Pandemie den besonders betroffenen Mitgliedstaaten aus der Krise zu helfen, und basiert folgerichtig auf Art. 122 AEUV, wonach die EU einem Mitgliedstaat in außergewöhnlichen Situationen finanziell zur Seite stehen kann. Dass die Mittel aus der Fazilität zu einem erheblichen Teil für den Klimaschutz vorgesehen und daher nicht unmittelbar auf die Corona-Pandemie bezogen sind, könnte zum Problem werden.

Und machen wir uns nichts vor: Hätten alle Mitgliedstaaten eine Staatsschuldenquote unter 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts vor der Pandemie vorzuweisen gehabt, hätte es einer europäischen Antwort in der Fiskalpolitik nicht bedurft. Genauso wenig ist davon auszugehen, dass die Wettbewerbsfähigkeit der italienischen Wirtschaft mit diesem Programm hinreichend gestärkt wird, um die Staatsfinanzen des Landes nachhaltig zu konsolidieren.

Mitgliedstaaten haften nur begrenzt

Zweitens stellt sich die Frage, wer für die Verschuldung der EU haftet. Im Unterschied zu Eurobonds, also gemeinschaftlichen Anleihen mit gesamtschuldnerischer Haftung, bei denen jeder beteiligte Mitgliedstaat in voller Höhe der Anleihe im Außenverhältnis haftet, steht für diese Verschuldung die EU mit ihrem Haushalt ein. Der Haushalt ist anteilig durch die Mitgliedstaaten besichert, so dass diese indirekt als Haftungsgeber fungieren. Da es keine gesamtschuldnerische Haftung, sondern eine anteilige ist, scheint diese Haftung begrenzt. Allerdings besteht eine Nachschusspflicht, falls ein Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Die Kläger leiten daraus ab, dass Deutschland dadurch seine haushaltspolitische Souveränität aufgebe.

Faktisch ist dies unwahrscheinlich. Ein Zahlungsausfall eines Mitgliedstaats kann innerhalb der Währungsunion durch Umschuldung bewältigt werden, wie das Beispiel Griechenland zeigt, und dann ohne negative Rückwirkung auf die Verpflichtungen eines solchen Landes zu Zahlungen in den EU-Haushalt auskommen. Kritischer ist der Austritt eines Mitgliedstaates. Wie der Brexit aber zeigt, kommt das Vereinigte Königreich seinen in der Vergangenheit im Rahmen des EU-Haushalts eingegangenen finanziellen Verpflichtungen weiterhin nach, nicht zuletzt um gute Beziehungen zur EU zu unterhalten. Insofern kann bei diesem Eigenmittelbeschluss von einer begrenzten Haftung des einzelnen Mitgliedstaates ausgegangen werden.

Zudem könnte das BVerfG in seiner Entscheidung im Hauptsacheverfahren Ergänzungen verlangen. Eine Möglichkeit wäre etwa eine Protokollerklärung, welche die Nachschusspflicht für die im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität eingegangene EU-Verschuldung ausschließt. Dies würde in ein «Ja, aber»-Urteil münden, wie sie in der Vergangenheit häufig getroffen wurden, und könnte sich allenfalls in etwas schlechteren Konditionen der EU-Anleihen auswirken.

Verkennen sollte man jedoch nicht, dass der Einstieg in eine Fiskalunion verfassungsrechtlich hochproblematisch ist. Jede Äußerung von politisch Verantwortlichen in Deutschland und Europa, die jetzt von einem ersten Schritt in diese Richtung sprechen, ist daher kontraproduktiv. Deshalb muss die Aufbau- und Resilienzfazilität eine temporäre Lösung bleiben. Müsste man faktisch davon ausgehen, dass sie nicht temporär wäre, müssten das Grundgesetz und vermutlich die europäischen Verträge geändert werden und eine entsprechend breite Diskussion im Vorfeld stattfinden. Daher hat der Hängebeschluss des BVerfG die Brisanz, die ihm zu Recht zukommt.

Lars P. Feld, Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung, ist seit 2010 Professor für Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Direktor des Walter-Eucken-Instituts. Von 2011 bis 2021 war er Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

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