Die spinnen, die Brexit-Briten – oder doch nicht? Philip Plickert meint, mit der neuen umweltorientierten Agrarpolitik und der weniger subventionsgetriebenen Energiewende agiere Großbritannien klug. Andere könnten davon einiges lernen; Großbritannien als Politiklabor für Europa.

In den Jahren seit dem Brexit-Referendum ist Spott über Großbritannien für viele zum Volkssport geworden. „Die spinnen, die Briten“, hieß es in Anlehnung an die Asterix-Geschichten oft. Das Gezerre um den EU-Austritt schien das Land zu lähmen; es gab viele Warnungen vor großen wirtschaftlichen Einbußen. Inzwischen hat die Corona-Krise all diese Sorgen überlagert. Wie die ganze Welt ist auch die britische Wirtschaft in eine brutale Rezession gerutscht. Die Brexit-Fragen sind in den Hintergrund gerückt.

Dabei zeigt sich auf einzelnen Feldern schon, wie stark Großbritannien künftig von der EU-Politik abweichen wird – und zum Teil durchaus klug. Das bislang deutlichste Beispiel ist die neue, ökologisch orientierte Agrarpolitik. Sie bricht radikal mit der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) aus Brüssel. Jahrzehntelang hat London die EU-Politik kritisiert, die Milliarden-Subventionen wie aus einer Gießkanne über den Landwirtschaftssektor regnen lässt. Die Briten konnten sich aber mit ihren Reformwünschen nie durchsetzen, denn die Subventionsprofiteure sind gut organisiert und haben viel Einfluss in Brüssel.

Seit den frühen 1960er-Jahren gibt es die GAP, die vor allem auf Drängen der Agrarlobby in Frankreich begann. Ludwig Erhard, damals deutscher Wirtschaftsminister und später Kanzler, war nicht begeistert; er plädierte für Freihandel und weniger Protektionismus. Die europäische Agrarpolitik ist seitdem ein Paradebeispiel für eine Politik, die den Markt und den Preismechanismus außer Kraft setzt und zu Fehllenkungen führt. Die garantierten Mindestpreise hatten zur Folge, dass die Bauern ungeachtet der Nachfrage immer mehr produzierten. Das Überangebot führte in den 1980er-Jahren zu den berüchtigten Milchseen und Butterbergen. Die mit Milliardensubventionen angeregte Überproduktion wurde kostspielig gelagert, schließlich vernichtet oder zu Dumpingpreisen auf die Weltmärkte geworfen, wo sie, etwa in Afrika, die armen Bauern ruinierte.

Queen bekam Subventionen

In den 1990er-Jahren stellte die EU auf Direktzahlungen um. Seitdem erhalten Bauern jedes Jahr eine bestimmte Summe je bewirtschafteten Hektar von der EU überwiesen (in Deutschland durchschnittlich gut 280 Euro je Hektar, insgesamt rund fünf Milliarden Euro im Jahr). In der ganzen EU fließen Jahr für Jahr fast 40 Milliarden Euro als Direktzahlungen an Millionen Agrarbetriebe. In der nächsten Finanzperiode (2021 bis 2027) sind gut 250 Milliarden Euro Direktzahlungen für den Agrarsektor eingeplant. Kritiker sagen zu Recht, dass diese Subventionen ohne soziale und ökologische Zielgenauigkeit fließen. Von den Direktzahlungen profitieren vor allem Großbetriebe und Landbesitzer mit riesigen Flächen; selbst die britische Queen gehörte über Jahre mit fast einer halben Million Euro Direktzahlungen zu den großen EU-Subventionsempfängern.

Die Direktzahlungen führen zu steigenden Bodenpreisen. Für kleine Bauern, die oft Pächter sind, reicht das EU-Geld dagegen kaum zum Überleben. Noch schlechter ist die ökologische Bilanz: Die Direktzahlungen fließen unabhängig davon, wie das Land bewirtschaftet wird und wie viele Pestizide, Nitrate und andere Düngemittel verspritzt werden.

Die neue britische Agricultural Bill von Umwelt- und Landwirtschaftsminister George Eustice macht einen radikalen Schnitt. Direktzahlungen werden drastisch gekürzt, für Großbetriebe schon ab 2021 um 25 Prozent und nach sieben Jahren komplett abgeschafft. Steuergeld für Landwirte gibt es künftig nur noch, wenn sie „öffentliche Güter“ produzieren, von denen die Allgemeinheit profitiert. Gemeint sind damit bessere Wasser- oder Luftqualität, höhere Tierschutzstandards oder Maßnahmen zur Verringerung von Überschwemmungsrisiken, etwa mit der Pflanzung von Bäumen oder Hecken entlang von Flüssen. Ein pauschales Hektar-Geld unabhängig von der ökologischen Bilanz wird es auf der Insel nicht mehr geben.

Agrarökonomen und Ökologen in ganz Europa fordern seit Langem ein solches Umsteuern der EU-Landwirtschaftspolitik. Bislang scheiterte die Wende aber an der Front der Großbauernlobby in den Brüsseler Ausschüssen und im Ministerrat. Die Briten machen nun ihre eigene Politik. Erstaunlich ist, dass die neue Landwirtschaftspolitik auf der Insel relativ wenig Widerstand der etwa 500.000 Agrarbeschäftigten hervorruft. Offenbar sehen sie ein, dass die zukünftige Akzeptanz öffentlicher Zahlungen von ihrem Beitrag zur Erhaltung der Natur und Umwelt abhängt.

Die europäische Agrarpolitik ist ein Paradebeispiel für eine Politik, die den Markt und den Preismechanismus außer Kraft setzt und zu Fehllenkungen führt.

Aus Sicht der EU-Europäer ist das britische Experiment faszinierend. Der Brexit eröffnet ein Entdeckungslabor für neue Politikansätze, er ermöglicht einen Wettbewerb um bessere Lösungen.

Auch im Bereich der Energie- und Klimapolitik fällt auf, dass die Briten weniger auf Subventionen, Quoten und Planwirtschaft setzen, stattdessen mehr auf einen marktwirtschaftlichen Preismechanismus. Während Deutschland jährlich an die 25 Milliarden Euro via Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) umverteilt und trotzdem immer noch einen relativ hohen Anteil Kohlestrom nutzt (2019 waren es rund 30 Prozent Braun- und Steinkohle), ist der Kohleanteil auf der Insel inzwischen minimal. Er sank innerhalb von fünf Jahren von 33 Prozent in Richtung ein Prozent. Stark zugenommen hat der Anteil von Strom aus Windparks (etwa 25 Prozent) sowie aus Gaskraftwerken (fast 30 Prozent); der Atomstrom-Anteil von etwa einem Viertel wird gehalten.

Was hat in Großbritannien zu der raschen Abkehr von der Kohle geführt? Der entscheidende Faktor war ein Preisaufschlag auf die EU-Emissionszertifikate, der sogenannte Carbon Price Support. 2013 fingen die Briten mit fünf Pfund an, seit 2015 beträgt der Aufschlag 18 Pfund (rund 20 Euro) je Tonne CO2. Dieser Kostenzuschlag hat die Kohleverstromung unrentabel gemacht. Innerhalb kurzer Zeit schalteten die Energieversorger Kohlekraftwerke ab und bauten Gaskraftwerke, die je Kilowattstunde Strom nur halb so viel CO2 ausstoßen.

Effektiver und günstiger

Beim Ausbau der Windenergie helfen Großbritannien die natürlichen Gegebenheiten: In der Nordsee vor Nordengland und Schottland bläst der Wind intensiv. Anfangs bot der Staat recht hohe Subventionen, doch diese sind für Windkraftanlagen an Land (Onshore) komplett abgeschafft worden. Für Offshore-Windparks wurde ein Auktionsmechanismus eingeführt, bei dem jene Projektbetreiber zum Zuge kommen, die den niedrigsten Preis bieten. Für Solarstrom wurde die Subvention gestrichen.

So müssen die britischen Steuerzahler und Verbraucher für die Energiewende weniger bezahlen als die Deutschen – sie zahlen nämlich nur die Hälfte der jährlich in Deutschland fälligen etwa 25 Milliarden Euro. Selbst wenn man die geringere Einwohnerzahl und den kleineren Anteil energieintensiver Industrie berücksichtigt, ist die britische Energiewende mit weniger Subventionen erkauft. Der Strompreis auf der Insel liegt für Verbraucher zudem deutlich niedriger als in Deutschland.

Der wichtigste Unterschied ist aber, dass die britische Energiewende effektiv ist: Der CO2-Ausstoß ist von 1990 bis 2019 um 40 Prozent gesunken; dies ist eine größere Reduktion als in Deutschland mit seiner planwirtschaftlichen und subventionsgetriebenen Energiewende. Nach der Corona-Rezession, die Produktion und Verkehr signifikant lähmt, dürften die Emissionen wieder steigen. Es steht in den Sternen, wie das Ziel der Londoner Regierung von Netto-Null-Emissionen bis 2050 erreicht werden kann. Zu befürchten ist, dass dies sehr teuer wird und die Briten zahlreiche Verbote erleben werden – etwa das verordnete Aus für Neuzulassungen von Autos mit Verbrennungsmotor ab 2035. Auch auf der Insel arbeiten Politiker gern mit direkten Eingriffen; effizienter wären Marktlösungen wie die Einbeziehung des Verkehrs in den Emissionshandel.

Dr. Philip Plickert ist Wirtschaftskorrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in London. Er ist Träger des Ludwig-Erhard-Förderpreises für Wirtschaftspublizistik 2009.


Dieser Beitrag ist zuerst im Heft „Wohlstand für Alle – Klimaschutz und Marktwirtschaft“ aus dem Jahr 2020 erschienen. Das Heft kann unter info@ludwig-erhard-stiftung.de bestellt werden; oder lesen Sie es hier als PDF.

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