Am 4. Februar 2016 jährt sich Ludwig Erhards Geburtstag zum 119. Mal. Auch wenn in Sonntagsreden oft Lob über Erhard und seine Soziale Marktwirtschaft zu hören ist: Die von ihm als freiheitliche Ordnung verstandene Konzeption hat seit geraumer Zeit in der realen Politik einen schweren Stand. Im nachfolgenden Text äußert sich Ludwig Erhard zu seiner Sozialen Marktwirtschaft als „Wirtschaftsordnung der Zukunft“ (Auszug aus einem Manuskript von 1975 aus dem Archiv der Ludwig-Erhard-Stiftung).

Was die Wirtschaftsordnung der Zukunft angeht, stellt sich uns die Frage: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, oder – anders gefragt – welche Grundwahrheiten sind auch in den kommenden Jahrzehnten zu beachten?

1. Unsere Wirtschaftsordnung ist zuerst und muss vor allem auch für die Zukunft Marktwirtschaft – also Wettbewerbswirtschaft – bleiben. Natürlich sind mir die Wandlungen innerhalb größer werdender Märkte und ihre Rückwirkungen auf die optimale Gestaltung der Einheiten unserer Wirtschaft nicht unbekannt. Auch mögen die sich ausbreitenden Formen grenzüberschreitender Unternehmen die Frage des Wettbewerbs in neuem Licht erscheinen lassen, aber es gilt auch für diese Märkte – und niemand hat bisher vermocht, ein besseres Prinzip an seine Stelle zu setzen –, dass nur dort, wo Konkurrenz herrscht, auf die Dauer mit dem Höchstmaß an Leistung und Preiswürdigkeit zu rechnen ist.

2. Politisch-wirtschaftliche Ordnungssysteme leben nicht nur von Ideen, nach denen sie gebildet sind, sondern vor allem auch von und mit den Menschen, denen sie letzten Endes zu dienen haben. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass die Deutschen im letzten Quartal unseres Jahrhunderts ebenso wie die Angehörigen anderer westlicher Industrienationen sehr viel an geistiger und technischer Disposition aufbringen müssen, um mit den Problemen fertig zu werden, die sich ihnen in der Gesellschaft, in der staatlichen Verwaltung, in den wirtschaftlichen Einheiten, kurz, sowohl am Arbeitsplatz, in der Freizeit und auch als Bürger, stellen werden. Hier genügt der Hinweis, dass der „Faktor Mensch“ in der Zukunft nicht geringere, sondern größere Bedeutung haben wird; nicht hinsichtlich des Umfangs seines Tätigseins für die Zukunftssicherung, sondern mehr in dem qualitativen Anspruch, dem er sich ausgesetzt sehen wird. Er wird dazu auch die Fähigkeiten zu entwickeln haben, den beruflichen Anforderungen der verschiedensten Art im Laufe seines Lebens genügen zu können.

3. Die Soziale Marktwirtschaft ist also weitaus mehr als ein effizientes Wirtschaftssystem im engeren Sinne. So haben wir sie von Anfang an verstanden und angewendet, und so war sie auch gerüstet, die materielle Seite unseres Lebens in nicht voraussehbarer Weise zu bereichern. Dass übrigens nicht wenige einen sehr primitiven Gebrauch von den materiellen Möglichkeiten, die unsere Wirtschaftsordnung ihnen bietet, machen, darf keineswegs dieser Ordnung angelastet werden – wie das allenthalben geschieht. Die Ursachen liegen wohl mehr in gewissen Grundeigenschaften menschlichen Wesens, die zu beeinflussen vor allem dem Elternhaus, der Schule und den Kirchen anheimgegeben ist. Die Bereicherung des individuellen Lebens und die Deckung des wachsenden öffentlichen Bedarfs wird der Sozialen Marktwirtschaft ebenso lange möglich sein, wie wir sie als Teil einer umfassenderen, auch an außer-materiellen geistigen Werten orientierten Gesamtordnung unseres Daseins verstehen.

4. Wirtschaftspolitik muss auch in Zukunft sogar mit großem Gewicht Teil einer bewussten Gesellschaftspolitik bleiben. Verzichteten wir darauf, Wirtschaftspolitik konsequent freiheitlich zu gestalten, so würden andere – nämlich Kräfte des Kollektivismus – mit der Wirtschaftspolitik gleichzeitig eine Politik zur Veränderung der Gesellschaft durchzusetzen versuchen.

5. Die Sozialpolitik der Zukunft wird phantasievoller sein müssen und das Prinzip der Egalisierung, das ihr als Ergebnis historischer Vorgänge schon allzu lange eigen ist, durch den verstärkten Einbau individueller Gestaltungsmöglichkeiten der Vorsorge für die Wechselfälle des Lebens ablösen müssen. Nicht weniger soziale Sicherheit darf das Ziel sein, sondern bessere soziale Sicherung in persönlicher freier Gestaltung und Verantwortung.

6. Die Soziale Marktwirtschaft kann auf einen starken Staat nicht verzichten. Sie braucht ihn vor allem als den Inhaber der äußeren politischen Ordnung, in der sie sich voll zu entfalten vermag.

7. Wer Marktwirtschaft will, weil er die eigentlich von niemandem bestrittene ökonomische Effizienz dieses Systems und seine Anpassungsfähigkeit an wechselnde Bedingungen erhalten sehen möchte, darf nicht gleichzeitig wesentliche Träger dieses Systems – nämlich die Unternehmer – zu Befehlsempfängern oder zu geduldeten Existenzen im Rahmen eines quasi-staatlichen Apparates machen. Er darf auch nicht ihr Leistungsstreben, das die Chance, auch materielle Gewinne zu erzielen, voraussetzt, bewusst diffamieren. Ein Zuviel an staatlichen Eingriffen wird immer von Übel sein. Unternehmerischer Betätigung muss vielmehr in allen Bereichen unserer Gesamtwirtschaft der weiteste Spielraum gelassen werden; anders ist Marktwirtschaft nicht möglich!

8. Das, was wir lange Zeiten als Außenhandel und Welthandel betrachteten, gewinnt immer mehr Züge eines Binnenhandels. Dies ist eine Konsequenz der großräumigen Märkte, an deren Schaffung gerade wir Deutsche entscheidend mitgewirkt haben. Die Welt, die jenseits unseres eigenen Marktes liegt, ist allerdings auch für die Zukunft von außerordentlicher Bedeutung, gleichgültig, ob es sich um den kommunistischen Machtbereich handelt oder um Länder der Dritten und Vierten Welt. Probleme der Zukunft sehe ich hier vor allem in dem Vordringen von Staatshandelsländern, die wenig Sinn dafür aufbringen, dass ein wirklich freier, unternehmerisch ausgerichteter Welthandel zuletzt auch in ihrem Interesse liegen würde.

Diese Aufzählung einiger wesentlicher Voraussetzungen und Bedingungen für die Zukunft unserer Sozialen Marktwirtschaft wäre nicht vollzählig, wenn ich nicht zum Beschluss darauf verweisen würde, dass diese Ordnung so lange Bestand hat, wie sie politisch von den Wählern selbst getragen wird.

Das heißt also: Ein wesentlicher Teil unserer Anstrengungen wird sich darauf erstrecken müssen, den Wählern und hier insbesondere den heranwachsenden, sichtbar zu machen, dass es keine Alternative zur Sozialen Marktwirtschaft gibt, wenn wir weiter im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie leben wollen. Die Soziale Marktwirtschaft ist in meinen Augen ein unveräußerliches Wesenselement der staatlichen Ordnung, die wir uns 1949 im Grundgesetz gegeben haben. Sie dort festzuschreiben, ist die politische Aufgabe der Zukunft.

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