Auf dem Symposion der Ludwig-Erhard-Stiftung am 28. Juni 2018 in Berlin zum Thema „Neue Dynamik für die Digitalisierung von Wirtschaft und Währung“ sprach Prof. Dr. Justus Haucap, Direktor des Düsseldorf Institute for Competition Economics (DICE) und Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung, über Ordnungspolitik in einer digitalisierten Welt. Nachfolgend dokumentieren wir eine Transkription seines Vortrags.

Wenn man die Fotos der deutschen Fußballnationalmannschaft in der Presse von heute Morgen betrachtet, denkt man: So sehen Verlierer aus. Warum sage ich Ihnen das? Weil das vor vier Jahren Weltmeister waren. Platz 1, die besten Fußballer der Welt. Jetzt sind das die Letzten der Vorgruppe. Ein tiefer Fall, wie er wohl tiefer hätte nicht sein können. Bei Twitter stand „Ratlos, mutlos, unmotiviert, fantasielos…“ – das ist ein beliebiger Tweet, von dem es viele gab. Aus der FAZ – ich habe ja das Zitationsrecht, als Wissenschaftler verletze ich das Leistungsschutzrecht nicht – kann ich zitieren, dass die Zeit des Weltmeisters abgelaufen ist: „Erschütternd harmlos, ideenlos und vollkommen hilflos: So scheidet Deutschland aus.“ Das ist ja mehr eine Beschreibung, eine Charakterisierung – aber noch keine Ursachenforschung. Ich will deshalb ein klein wenig tiefer gehen und habe ein Bild eines meiner Lieblingsmusiker, Fat Boy Slim, vor Augen. Er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: „I’m #Number 1, why try harder?“. Da komme ich dem Kern des Problems etwas näher, denn es ist ja nicht nur ein deutsches Problem, das wir haben. Bei den letzten fünf Weltmeisterschaften sind vier Weltmeister in der Vorrunde ausgeschieden. Nur Brasilien bei der WM im eigenen Land nicht – aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Brasilianer im Nachhinein nach dem 7:1 im Halbfinale der WM 2014 nicht vielleicht lieber in der Vorrunde ausgeschieden wären. Wie auch immer: Die Performance der amtierenden Weltmeister war bei der folgenden WM nie ganz so gut.

Politikfeld Digitalisierung im Koalitionsvertrag

Hier komme ich nun zu dem, was mich bei der Digitalisierung umtreibt. Uns geht es momentan blendend: Wir haben Vollbeschäftigung in vielen Regionen; wenn überhaupt, haben wir Arbeitskräftemangel; Arbeitslosigkeit spielt im Großen und Ganzen keine Rolle; wir haben Geldwertstabilität. Es läuft im Großen und Ganzen gut, und es gibt wenig Grund zur Klage. Wir haben die schwarze Null – und von daher gilt: Die Leute sind mit der wirtschaftlichen Lage zufrieden. Wenn man zufrieden ist, kann einem das passieren, was der deutschen Mannschaft passiert ist. Man kann dann auch sehr schnell stürzen. Als Volkswirtschaft vielleicht nicht ganz so schnell wie im Fußball. Aber meine Sorge ist, dass wir abstürzen können, wenn wir uns jetzt nicht auf die Trends und Herausforderungen der Zukunft vorbereiten.

Im Koalitionsvertrag wurde das in gewisser Weise erkannt. Das Wort Digitalisierung steht da – wenn ich richtig gezählt habe – 189 Mal: Digitalagenda, Digitalisierung oder sonst eine Kombination mit der Spezifizierung „digital“. Der Beginn ist optimistisch, und zwar nicht in dem Sinne, dass wir die Risiken der Digitalisierung mindern müssen, sondern es geht vielmehr um die Chancen. Wir müssen die Potenziale mobilisieren und die Chancen der Digitalisierung nutzen, also die Digitalisierung so gestalten, dass – so das Versprechen des Koalitionsvertrags – alle davon profitieren. In dieser Absolutheit wird das aber nicht funktionieren, dass eine echte Pareto-Verbesserung – so sagt der Ökonom, wenn wirklich alle profitieren – erzeugt wird. Wenn das ginge, hätte es sie schon gegeben. Es wird auch Leute geben, die nicht von der Digitalisierung profitieren. Das sind insbesondere auch diejenigen, deren Geschäftsmodelle durch neue Geschäftsmodelle abgelöst werden.

Wie geht es dann weiter im Koalitionsvertrag? Ich habe das chronologisch aufgelistet: den Gigabit-Netz-Ausbau fördern, also Glasfaser oder irgendeine andere schnelle Technologie, und die digitale Verwaltung voranbringen. Das sind die ersten beiden Maßnahmen, die im Koalitionsvertrag stehen, die sich mir auch gut erklären. Warum? Die Gigabit-Netze tun keinem weh. Das ist eine der wenigen Infrastrukturen, gegen die niemand protestiert. Tatsächlich: Man kann den Leuten schnelles Breitband versprechen und man wird fast niemanden finden, der sagt, dass wolle er nicht. Jeder wird sagen: Mehr Breitband, das ist gut, das wollen wir. Das gilt auch für die digitale Verwaltung. Das ist zwar schon ein bisschen schwieriger, aber man wird tendenziell die Bürger mitnehmen können. Sie werden es gut finden, wenn sie nicht mehr zur Kfz-Zulassungsstelle laufen und sich in die lange Schlange stellen müssen. Die einzigen, die man möglicherweise nicht mitnimmt, sind die Leute in der Verwaltung selbst. Die sind möglicherweise weniger begeistert. Aber das sind tendenziell Maßnahmen, die erstmal auf große Popularität stoßen.

Richtige Prioritätensetzung?

Auf weniger Popularität stoßen dagegen Maßnahmen, die zu sektoralen Verschiebungen führen und den Strukturwandel induzieren, den wir aber brauchen, wenn wir vorne dabeibleiben wollen. Wir wollen starke deutsche und europäische Akteure in der Plattformökonomie, die momentan noch fehlen, und deswegen versuchen wir, sie irgendwie zu kreieren. Ist diese Reihung die richtige Prioritätensetzung?

Ich beantworte die Frage so: Wie dringend ist der Ausbau des schnellen Internets? Ich nehme am liebsten die Statistiken der Europäischen Kommission, weil sie am wenigsten interessengeleitet sind – im Gegensatz zu denen von Unternehmen oder spezifischen Branchenverbänden. Demnach steht Deutschland einerseits nicht blendend, andererseits aber auch nicht wirklich schlecht da. Die Europäische Kommission misst schnelles Internet mit 30 Mbit pro Sekunde; das Ministerium für Verkehr und Digitale Infrastruktur sagt, es müssen 50 Mbit pro Sekunde sein, wahrscheinlich müssen es in fünf Jahren 100 Mbit sein. Deutschland ist den europäischen Statistiken zufolge im Mittelfeld, nämlich auf Platz 15 – wir führen sozusagen die untere Tabellenhälfte an. Man kann durchaus zu dem Schluss kommen, dass das nicht zufriedenstellend ist und dass durchaus mehr zu erwarten wäre, möglicherweise also mehr getan werden kann.

Aber ein Aspekt, der seltener benannt wird, ist das zweite. Es geht um die Frage: Wenn das Breitband bei den Leuten vor der Tür liegt, kaufen die das überhaupt? Denn nur die Tatsache, dass ein Breitbandkabel bei den Leuten vor der Tür liegt, hilft ja nicht weiter. Beim Take-up sind wir tatsächlich noch schlechter, eben nicht mal auf Platz 15, sondern gerade noch über dem EU-Durchschnitt. Nur 36 Prozent von denen, die einen Breitbandanschluss haben könnten, wollen zu den momentanen Preisen auch kaufen. Die Nachfrage nach diesen Leitungen ist also aktuell nicht da, zumindest nicht bei privaten Haushalten.

Warum wollen so viele Leute das offensichtlich nicht kaufen? Da denkt der Ökonom: Das wird wohl zu teuer sein. Aber wenn wir uns dann wiederum die Statistiken der Europäischen Kommission anschauen, die den Preis im Verhältnis zum verfügbaren Einkommen der Haushalte ermitteln, dann sehen wir, dass es am Preis vermutlich nicht liegen wird. In Deutschland ist es am viertgünstigsten; nicht in absoluten Preisen, aber in Relation zum verfügbaren Einkommen. Es kann also nicht daran liegen, dass die Leute sich das nicht leisten können. Der Preis allein kann es nicht sein, es muss etwas Anderes sein. Und die Infrastrukturbedingungen sind eigentlich auch nicht so schlecht – sodass es nicht der Regulierung durch die Bundesnetzagentur angelastet werden kann.

Übersehen wird häufig, dass es nicht genug interessante Angebote gibt. Die Leute wissen nicht, warum sie sich das schnelle Internet zulegen sollen. Meine Vermutung ist, dass sich private Haushalte nur unter bestimmten Bedingungen schnelles Internet zulegen, zum Beispiel wenn Teenager im Haushalt wohnen. Dann werden nämlich Dienste wie Gaming und Netflix interessant. Jetzt kann man wiederum sagen, dass Netflix in Deutschland möglicherweise gar nicht so interessant ist, weil wir ja ein sehr auskömmlich finanziertes öffentlich-rechtliches werbefreies Rundfunksystem mit 23 Sendern haben. Da stellt sich der Mehrwert von Netflix natürlich schon anders dar als in Staaten, in denen das öffentlich-rechtliche Angebot nicht so groß ist. Aber der mangelnde Take-up wird wohl auch nicht allein am öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Netflix liegen.

Einschränkungen weiterer Dienste

Wir können verschiedene Bereiche durchdeklinieren und weiter fragen: Welche Dienste haben wir noch? Bei E-Health sieht es beispielsweise noch schlechter aus: Da liegt Deutschland in der EU auf Platz 26, also noch weiter hinten. Das liegt zum Teil an sehr strikten Datenschutzvorschriften, wenn ich etwa an die Debatte um die elektronische Gesundheitskarte denke – Dinge, bei denen eigentlich enorme Effizienzpotenziale evident sind. Aber so etwas ist in Deutschland sehr schwer umzusetzen. Hinzu kommt die Struktur des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA), der bestimmt, was kassenärztlich abgerechnet werden kann. Er ist so strukturiert, dass er nicht besonders innovationsoffen ist, sondern so, dass die etablierten Leistungserbringer eher nicht durch neue Anbieter im Markt verdrängt werden. Wenn neue Angebote und Anbieter keine kassenärztliche Abrechnungsmöglichkeit bekommen, dann wird die Leistung eben auch nicht erbracht, denn der ganz große Teil der Deutschen ist in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert.

Oder betrachten wir die Verbote in der Sharing Economy: Uber wollen wir nicht, und Airbnb wollen wir zumindest genau dann nicht, wenn die Nutzer das wollen. In Berlin ist es populär, deswegen wollen wir es dort nicht, in Gelsenkirchen dulden wir es meinetwegen, weil es dort ohnehin keiner nutzt.

Nächstes Thema: E-Books – das ist doch eine tolle Sache, so günstig in der Produktion: keine Distributionskosten, geringe Herstellungskosten, zumindest im Druck usw. Und nutzerfreundlich: Man kann die Weltliteratur in der Jackentasche mit sich herumschleppen, eine fantastische Sache. Wenn ich Buchhändler wäre, würde ich sagen: Das will ich lieber nicht. Ist ja völlig klar. Niemand wird in den Buchladen kommen und sagen, ich hätte gern ein E-Book. Also muss ich als Buchhändler versuchen, dass die E-Books möglichst teuer werden. Wie schaffe ich das? Zuerst haben die großen Verlage ein Preiskartell gebildet. Dann hat die Europäische Kommission das unterbunden und mit einem Bußgeld belegt, denn Kartelle sind ja illegal. Was haben sich Verleger und Buchhändler dann überlegt? Wenn es derzeit illegal ist, müssen wir es eben legal machen, also haben wir jetzt die Preisbindung für E-Books per Gesetz eingeführt, damit diese schön teuer bleiben und sich nicht so schnell durchsetzen.

Rezeptpflichtige Medikamente wollen wir nicht im Arzneimittelhandel haben etc. pp. Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Die Expertenkommission Forschung und Innovation spricht von einer Servicewüste in deutschen Amtsstuben, denn beim E-Government sind wir in Europa auch ganz hinten.

Jetzt soll durch die europäische Hintertür das Leistungsschutzrecht für Presseverlage europaweit eingeführt werden, nachdem es in Deutschland zumindest in dem Sinne gescheitert ist, dass die großen Presseverlage kein Geld von den großen Internetplattformen, also Facebook, Twitter und Google bekommen. Dafür ist aber das Geschäft von kleinen News-Aggregatoren wie Rivva.de enorm schwierig geworden. Das Leistungsschutzrecht war also leider nicht wirkungslos, weil es in enormer Weise innovationshemmend war. Das kann man Punkt für Punkt so weiter fortsetzen.

Diffuse Ängste

Was kommt bei dieser Politik heraus? Es fehlt in Deutschland an wirklich bedeutenden Internet-Firmen, die großen Internet-Unternehmen sind allesamt nicht in Deutschland ansässig. Das ist nicht wirklich überraschend. Wenn jemand ein neues Geschäftsmodell entwickelt, das ein anderes existierendes Geschäftsmodell gefährdet, dann wird das neue Geschäftsmodell in Deutschland so schwierig wie möglich gemacht. Letztlich wird immer nur SAP als positives Beispiel angeführt, aber an das Beispiel SAP klammern wir uns seit 30 Jahren. Seitdem ist eben nicht mehr viel passiert. Die Giganten sitzen inzwischen in den USA und Asien, aber nicht bei uns.

Was kommt noch dabei heraus? Ein illustratives Beispiel ist Google Street View. Wo gibt es den Dienst? Nicht in Weißrussland und nicht in der Ukraine, aber – vielleicht doch etwas überraschend – auch nicht in Deutschland und Österreich, weil wir eben doch besondere Befindlichkeiten haben. Vielen gefällt es nicht so richtig, wenn das eigene Wohnhaus für alle im Internet zu sehen ist. Wenn irgendein Mieter eines Hauses das nicht möchte, dann muss Google das Haus verpixeln. Google hat dann irgendwann entschieden, dass ein Dienst mit lauter verpixelten Häusern so uninteressant ist, dass Google es lieber gleich ganz sein lässt. Rund um uns herum in den Staaten der Welt gibt es also Google Street View, und es wird permanent aktualisiert. Wir hatten Street View eine Zeitlang noch in den großen deutschen Städten, aber mittlerweile sind das historische Bilder, die man da sehen kann. Google vermisst noch ab und zu die Straßen, aber es wird nichts mehr aktualisiert.

Nun können wir sagen: Das ist doch egal, wir kommen auch ohne Street View klar – und das stimmt auch. Meine Befürchtung ist jedoch, dass dasselbe auch für Uber und Airbnb gilt, und auch für den Versandhandel mit rezeptpflichtigen Medikamenten und überhaupt für jedes neue Angebot: In Deutschlands Nachbarstaaten gibt es Google Street View, nur wir sind auf der Landkarte ein weißer Fleck. Natürlich kommen wir auch ohne E-Books und so weiter aus – in jedem einzelnen Fall ist das unerheblich für die deutsche Volkswirtschaft. Aber im Aggregat besteht dann schon die Gefahr, dass am Ende nichts übrigbleibt. Warum ist das so? – Bei vielen Innovationen gibt es diffuse Ängste, sodass es heißt: Wir verstehen das nicht, das ist etwas Neues – also lehnen wir das besser ab.

Kollateralschaden durch demografischen Wandel

Ich denke, wir haben inzwischen ein grundsätzliches Problem. Innovationen erzeugen immer Gewinner und Verlierer. Das ist bei Prozessinnovationen so: Kein Taxifahrer wird begeistert sein, wenn sich das autonome Fahren durchsetzt; und auch in Unternehmen bin ich mir nicht sicher, wie die Personal- und Betriebsräte die Überwachung der Mitarbeiter finden werden, die mit den Innovationen zum Teil einhergeht. Und es ist auch bei Produktinnovationen so: Bessere Produkte verdrängen alte Produkte. Und natürlich: Wenn ich ein altes Produkt habe, dann bin ich nicht dafür, dass ein neues Produkt auf meinen Markt kommt. Die etablierten Anbieter versuchen daher, tendenziell den Strukturwandel zu verhindern. Unterstützt wird dies durch eine asymmetrische Machtsituation; die Newcomer existieren im Grunde nicht: Das sind im Wesentlichen Start-ups, und die Vorteile sind Streugewinne bei den Verbrauchern, die sich nicht von allein zeigen und für jeden Einzelnen überschaubar sind. Diejenigen aber, die verlieren, sind gut identifizierbar. Die betroffenen Unternehmen wissen, dass ihr bisheriges Geschäftsmodell gefährdet ist, also werden sie alle Hebel in Bewegung setzen, um das politisch zu unterbinden.

Ich wage die Hypothese, dass der demografische Wandel noch einen zusätzlichen Kollateralschaden erzeugt. Ich rede jetzt nicht über die Rente oder die Entrepreneure, die heute nicht existieren, weil sie nicht geboren worden sind. Sondern ich rede darüber, dass der Medianwähler immer älter wird. Hans-Werner Sinn führt das immer im Zuge der Rentenreform auf. Was er dabei übersieht und was es noch schlimmer macht: Während der Medianwahlberechtigte immer älter wird, wird der tatsächliche Medianwähler sogar noch älter, weil die jungen ja nicht wählen. Das heißt: Als Politiker ist es nicht attraktiv, Politik speziell für Junge zu machen.

Wenn man zugleich der Hypothese folgt, dass man mit dem Alter eher ein bisschen konservativer wird und sich denkt: „Es ging doch auch so immer ganz gut; muss ich mir diesen ganzen neuen modischen Schnickschnack noch antun, oder komme ich nicht auch so ganz gut klar? Mein Buchhändler ist so nett, der Apotheker auch usw.“, dann werde ich aus dieser Überlegung vielleicht eher jemandem folgen, der mir verspricht, dass sich nicht so viel verändert. Überhaupt: Alles ist so schnell und unübersichtlich geworden, waren die guten alten Zeiten nicht auch ganz ok? Wenn ich so denke, dann unterstütze ich eher die Bedenkenträger aus den Feuilletons, die vor der Digitalisierung warnen, und die Politiker, die mir versprechen, dass sich Dinge nur langsam oder gar nicht ändern werden.

Dann stellt sich die Frage: Was mache ich nun als Politiker, wenn ich doch etwas Modernes für die Digitalisierung tun will? Antwort: Ich propagiere Maßnahmen, die keinem wehtun. Und was tut keinem weh? Der Breitbandausbau – auch wenn es möglicherweise gar nicht das Wichtigste ist, auch im letzten Winkel der Republik möglichst rasch schnelles Internet verfügbar zu machen, sondern wir eher die Entwicklung und Verbreitung von Inhalten und Diensten in Deutschland ermöglichen sollten.

Auch die europäischen Vorgaben helfen an dieser Stelle nicht immer. Die Auswirkungen der DSGVO etwa sind mindestens ambivalent. Ein großer Vorteil ist sicher, dass man sich nicht mit 28 unterschiedlichen Datenschutzgesetzen herumplagen muss, wenn man in Europa geschäftlich aktiv sein will. Eine Verordnung ist besser als 28 – beziehungsweise demnächst nur noch 27. Gleichwohl sind die Wirkungen ambivalent, weil kleine Unternehmen sich viel schwerer tun, damit umzugehen, als große Unternehmen, die das recht gut verarbeiten. Das ist im Grunde bei jeder Regulierung so. Es hat mich enorm beunruhigt, als Mark Zuckerberg im amerikanischen Kongress gesagt hat, er würde sich für die USA auch so etwas wie die europäische DSGVO wünschen. Denn das ist eher ein Alarmsignal und suggeriert, dass die DSGVO wahrscheinlich nicht gerade wettbewerbsfördernd ist!

Netzneutralität und Leistungsschutzrecht

Wir haben aus meiner Sicht auch zu strikte Vorgaben bei der Netzneutralität. Stellen wir uns vor, ein kleiner Mobilfunkanbieter ohne Marktmacht oder auch United Internet würde folgende Dienstleistung anbieten: Alle WM-Spiele dürfen von ihren Kunden live gestreamt werden, ohne dass sich das auf das Datenvolumen angerechnet wird. Das wäre doch ein toller Wettbewerbsvorstoß. Allerdings wäre ein solches Angebot nicht zulässig, denn es ist eine Verletzung der Netzneutralität nach europäischen Standards. Der Anbieter könnte auch nicht sagen, das Pokémon-Go-Volumen wird nicht angerechnet, denn auch das wäre eine Verletzung der Netzneutralität. Wir haben hier eine Regulierung, die nicht an Marktmacht ansetzt, so wie sonst bei Wettbewerbsregulierungen, sondern an der einfachen Erbringung eines Dienstes selbst durch kleinste Unternehmen.

Was heißt das konkret? Wenn ich als Netzbetreiber überlege, in neue Netze zu investieren, dann kann ich keinem der Content-Anbieter versprechen, dass er einen First-Class-Service kriegt. Ich kann ihm nur sagen, dass er genau dasselbe bekommt wie jeder andere auch. Wenn ich also Google, Amazon oder wen auch immer ermuntern will, sich an der Finanzierung der Netze zu beteiligen, dann habe ich leider kein attraktives Angebot parat. Also investieren diese Internetgiganten vehement in eigene Infrastrukturen, die ihre Marktmacht weiter stützen und letztlich faktisch dazu führen, dass sie doch auf bessere (eigene) Netzinfrastrukturen zugreifen können als kleine Anbieter, die solche Investitionen nicht stemmen können. Wir haben mit der sehr strikten Netzneutralität eine überbordende, wettbewerbshemmende Regulierung geschaffen, aus lauter Angst vor hypothetischen Gefahren, und wir haben das nicht wie sonst bei Gefahr für den Wettbewerb an Tatbeständen wie Marktmacht, Marktbeherrschung oder meinetwegen an dem Vorliegen eines wettbewerbslosen Oligopols festgemacht. Stattdessen wurde eine Regulierung geschaffen, die flächendeckend für alle Unternehmen gilt, also völlig überbordend ist.

Und jetzt soll das Leistungsschutzrecht für Presseverlage in Europa dazukommen. Auch das wird sicherlich innovationsfeindlich sein, weil wiederum die kleinen Unternehmer am stärksten getroffen werden. Wir haben schon in Deutschland die Situation, dass keiner weiß, was genau Presse ist und was nicht mehr Presse ist, was also unter das Leistungsschutzrecht für Presseverlage fällt. Ich weiß natürlich, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung zur Presse gehört. Ich weiß aber nicht, ob irgendein Blog noch zur Presse gehört oder schon nicht mehr. Zumindest, wenn es ein Multi-Autoren-Blog ist, dann ist es vermutlich Presse – oder doch nicht? Das heißt: Die gleichen Probleme unbestimmter Rechtsbegriffe und innovationsfeindlicher Bestimmungen, die wir mit unserem Leistungsschutzrecht für Presseverlage in Deutschland schon haben, exportieren wir jetzt auf die europäische Ebene.

Für offene Märkte!

Eigentlich haben wir phantastische Chancen in der Digitalisierung: Neue Geschäftsmodelle, etwa im Bereich Gesundheit, haben enorme Effizienzpotenziale, von denen wir alle profitieren könnten. Aber die potenziellen Verlierer sind momentan viel lauter als die vielen kleinen Gewinner. In Kombination mit der Tatsache, dass politische Maßnahmen bisher nicht gebündelt in den politischen Prozess eingebracht werden, sondern jede Maßnahme einzeln und in Isolation betrachtet wird, führt dies dazu, dass sich letztendlich doch immer die Interessengruppen durchsetzen. Das hat die Europäische Kommission besser gemacht: Sie hat 2015 eine Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa vorgestellt, nach der 16 Punkte abgearbeitet werden. Wir aber haben uns in Deutschland im „Klein-Klein“ verloren: Hier das Leistungsschutzrecht, dort die Regelungen für Apotheken, E-Books, das unsägliche Vorhaben des deutschen Wetterdienstgesetzes, das ich Ihnen erspare – alles so kleine Gesetze, die sich unter der allgemeinen Wahrnehmungsschwelle befinden und schnell von den entsprechenden Interessengruppen manipuliert werden können, also den etablierten Anbietern, die bereits existieren, während die heute nicht existierenden Unternehmen sich naturgemäß nicht durchsetzen können.

Wie kommen wir da nun voran? Ich denke, wir müssen Bündel politischer Maßnahmen schnüren, Pakete also. Wir müssen eine Agenda abarbeiten, sodass nicht Einzelmaßnahmen von speziellen Interessengruppen für eben diese eingeführt werden können. Denn sonst – und das ist mein Lieblingszitat des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan – droht uns Folgendes: „Government’s view of the economy could be summed up in a few short phrases: If it moves, tax it. If it keeps moving, regulate it. And if it stops moving, subsidize it.“ Das wollen wir nicht, sondern wir wollen offene Märkte!

Hier geht es zur Dokumentation des Symposions mit Fotos und den anderen Redebeiträgen.

Foto: Dirk Hasskarl

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