Am 26. April 1997, also vor fast genau 25 Jahren hielt der damalige Bundespräsident Roman Herzog eine bedeutende Grundsatzrede, die später als die „Ruck-Rede“ in die Geschichte eingehen sollte. Er gab damit seiner Ungeduld Ausdruck, dass das Land sich zu wenig an die Herausforderungen des neuen Jahrhunderts anpassen würde und er erhielt überwältigend große Zustimmung.

Trotz der Sorgen von Roman Herzog ist die jüngere deutsche Wirtschaftsgeschichte zunächst eher eine Erfolgsgeschichte geworden. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts gab es bedeutende Reformen in der Sozialpolitik und im Arbeitsmarkt, viele davon im Rahmen der „Agenda 2010“. Deutschland hat die Finanzkrise um 2010 schneller und stärker hinter sich gelassen als die meisten Mitwettbewerber in der freien Welt. Deutschland hat als eines der wenigen Länder Schulden abgebaut und die Schuldenkriterien der Europäischen Verträge ernst genommen. Allerdings, diese eher kurzfristigen Erfolge scheinen uns in den grundsätzlichen Dingen noch träger gemacht zu haben.

Wer die Rede von Roman Herzog liest, dem werden die Aktualität seiner Gedanken und damit auch die Unterlassungen des vergangenen Vierteljahrhunderts bewußt. In den kommenden Jahren werden uns Begriffe wie Inflation und Rezession begleiten, die wiederum an vielen Stellen mit kurzatmigen Antworten versehen werden. Aber wir sind ein Land älterer Menschen in einem alternden Kontinent. Die letzte Runde der Innovationen unter dem Stichwort Digitalisierung haben wir nicht gewonnen, viele Industrien haben nicht zuletzt wegen hohen Energiepreisen das Land verlassen.

Herzogs Rede hat so aktuelle Bedeutung, weil die Bewältigung des Schreckgespensts Stagflation nur durch fundamentale ökonomische Maßnahmen und nicht durch kurzatmige Sofortprogramme bekämpft werden kann. Unsere gesamtwirtschaftliche Produktivität steigt zu langsam, die verfügbaren Arbeitsstunden sinken zu stark. Die gerade eingeführte Schuldenbremse wird durch die neue Droge „Sondervermögen“ grandios umgangen und die Zahl der deutschen Patentanmeldungen ist auch nicht mehr Weltspitze.

Die Herausforderungen sind mit den Mitteln einer freien und kreativen Gesellschaft und der Nutzung der Instrumente des Marktes lösbar. Ich lasse jetzt – fast willkürlich gewählt – einige Zitate von Roman Herzog aus seiner „Ruck-Rede“ sprechen und ich denke, Sie werden mir zustimmen: Den Ruck müssen wir uns immer noch geben.

„Es ist ja nicht so, als ob wir nicht wüßten, daß wir Wirtschaft und Gesellschaft dringend modernisieren müssen. Trotzdem geht es nur mit quälender Langsamkeit voran. Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen.“

„In Amerika und Asien werden die Produktzyklen immer kürzer, das Tempo der Veränderung immer größer. Es geht auch nicht nur um technische Innovation und um die Fähigkeit, Forschungsergebnisse schneller in neue Produkte umzusetzen. Es geht um nichts Geringeres als um eine neue industrielle Revolution, um die Entwicklung zu einer neuen, globalen Gesellschaft des Informationszeitalters.“

„Innovationsfähigkeit fängt im Kopf an, bei unserer Einstellung zu neuen Techniken, zu neuen Arbeits- und Ausbildungsformen, bei unserer Haltung zur Veränderung schlechthin. Ich meine sogar: Die mentale und die intellektuelle Verfassung des Standorts Deutschland ist heute schon wichtiger als der Rang des Finanzstandorts oder die Höhe der Lohnnebenkosten. Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal.“

„Können unsere Eliten über die dogmatischen Schützengräben hinweg überhaupt noch Entscheidungen treffen? Wer bestimmt überhaupt noch den Gang der Gesellschaft: diejenigen, die die demokratische Legitimation dazu haben, oder jene, denen es gelingt, die Öffentlichkeit für ihr Thema am besten zu mobilisieren?“

Die Rede verbleibt nicht im Allgemeinen. In konkreten Punkten zu mehr selbständigem und eigenverantwortlichem Leben, zu mehr Flexibilität bei der Definition von Arbeit, zu mehr solidarischem Handeln, zum Aufbruch in die Wissensgesellschaft, zu mehr Europa und zu einer starken deutschen Rolle in den internationalen Beziehungen, wird eine Vision für Deutschland beschrieben.

In diesen Tagen findet eine öffentliche Debatte über die Frage statt, wer bei wem Führung bestellt und ob oder ob nicht geliefert wird. Tatsächlich handelt es sich bei politischer Führung um den Willen und die Fähigkeit, eine große Zahl von Menschen aus einer Zone der erlebten oder befürchteten Unsicherheit unter Inkaufnahme von Risiken in eine neue Zone von Stabilität und Zufriedenheit zu führen. Ich wiederhole: Der „Ruck“ ist noch nicht „geliefert“.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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