Ist die Pandemie eine einzigartige Krise mit Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft oder legt sie längst vorhandene Fehlentwicklungen nur offen und verschärft sie? Hans-Werner Sinn legt ein Buch vor, das weit über die aktuelle Krise hinausweist: „Der Corona-Schock – Wie die Wirtschaft überlebt“.

Zyniker, und die allermeisten Politiker in hoher Funktion gehören zu dieser Gruppe, finden die durch Corona verursachte Krise gar nicht so schlimm: Die Pandemie ist die beste Ausrede; sie verdeckt Fehlentwicklungen, lenkt von Fehlentscheidungen ab und in ihrem Schatten lassen sich Vorhaben durchsetzen, die sonst am Widerstand der Bevölkerung gescheitert wären.

Zu diesem Ergebnis mag kommen, wer das neueste Buch von Hans-Werner Sinn liest; der frühere Chef des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung spannt einen weiten Bogen um die wirtschaftlichen Folgen von Corona. Er beschreibt kenntnisreich den Ausbruch in China und das schnelle Vordringen des Virus über fast den ganzen Globus; das ist wissenswert. Denn in der schnellen Abfolge der Entwicklung fehlt so eine nüchterne Geschichtsschreibung der Schrecknisse.

Aber die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sind nicht allein aus dem Virus SARS-CoV-2 zu erklären; ein Virus ist kein wirtschaftlicher Akteur. Er ist das, was Volkswirtschaftler einen „exogenen Schock“ nennen: ein von außen auf die Wirtschaft einwirkendes Ereignis, das seine Folgen im Zusammenspiel von vorhandener Wirtschaftsverfassung und eben dieser neuen Herausforderung entfaltet. Sinns Buch ist daher besonders lesenswert, weil der Autor genau das schafft: eine große Zusammenschau unserer wirtschaftlichen Lage, der Entwicklungsmöglichkeiten und politischen Entscheidungen, die im Zusammenhang mit dem Virus offengelegt wurden.

Dabei geht er recht gnädig um mit der Corona-Politik der Bundesregierung und der Länder; nach anfänglichem Zögern auch wegen der vorherrschenden ideologischen Denkblockaden („… ein Virus hat keinen Pass und deshalb hilft Begrenzung nicht…“) habe sich Deutschland durchaus gut geschlagen; besser und wesentlich schneller waren nur asiatische Länder wie Korea, Taiwan und Vietnam, die allerdings auch weit autoritärere Maßnahmen ergreifen konnten und die anders als Deutschland die Seuchen der vergangenen Jahrzehnte vorausschauender in Vorsichtsmaßnahmen und Prävention umgesetzt hatten.

Deutschland nicht mehr in allzu guter Verfassung

Sinn analysiert die Folgen vor dem Hintergrund der gemeinsamen europäischen Währung, dem Euro, mit Blick auf der in Ländern wie in Italien, Spanien und Griechenland noch nicht überwundenen Folgen der Finanzkrise und deutscher Besonderheiten wie Energie- und Industriepolitik. Er zeigt, dass jenseits der stärkeren medizinischen Betroffenheit die südlichen Länder besonders darunter leiden, weil das Virus auf Volkswirtschaften mit schwerwiegenden Vorerkrankungen traf. Das verschärft die ohnehin vorhandene Schwäche des industriellen Sektors und führt zu extrem aggressiven Forderungen nach massiver Umverteilung an die weniger hart getroffenen Länder der EU, denen letztlich durch die Brüsseler Beschlüsse zu europaweiten Transfers in ungeheurer Höhe Rechnung getragen wurde – wiederum mit gravierenden Folgen.

„Die Heftigkeit, mit der die fast schon ultimativen Forderungen nach Transfers vorgetragen wurden, begründet sich durch die enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten der mediterranen Länder, die weder mit dem Euro noch mit dem Wettbewerb der osteuropäischen Niedriglohnländer zurechtkommen. Die Anrainerstaaten des Mittelmeerraumes leiden unter einer tiefgreifenden Wettbewerbsschwäche, die über die Absatzmärkte, über die Zinspolitik der EZB und über fiskalische Rettungssysteme voll zu uns durchschlägt. Die Corona-Krise, die in den gleichen Ländern wütet, die diese Schwierigkeiten haben, hat die Problemlage nochmals dramatisch verschärft und einen Erwartungsdruck gegenüber Deutschland aufgebaut, dem wir kaum gerecht werden können. Deutschland hat zwar breite Schultern, doch ist es auch nicht mehr in allzu guter Verfassung.“

Sinn beschreibt ausführlich diese „nicht allzu gute Verfassung“ am Beispiel von Energie- und Industriepolitik. Deutschland habe „ein politisches Problem mit der fast gewollten Zerstörung der alten Automobilindustrie. Hier besteht eine gewisse Parallele zu Corona: Aus Schutz vor dem Corona-Virus halten wir die Räder der Industriegesellschaft an, machen die Läden zu und erzeugen dadurch die ökonomische Krise. Aus Schutz vor dem Klimawandel machen wir die alte Automobilindustrie weitgehend zu und zwingen sie zu einer neuen zu werden, die dann Elektroautos im großen Stil bauen soll, was die Kunden aber weniger erfreut als die meisten Umweltpolitiker. Das ist eine dauerhafte Behinderung eines bis vor Kurzem noch prosperierenden Wirtschaftszweiges, von dem sehr viel in Deutschland abhing und der als das Rückgrat der deutschen Industrie gelten kann.“

Medialer Konsens, gegen den man mit Argumenten kaum noch ankommt

Sinn gelingt das Kunststück, die unterschiedlichen Interessen der Europäischen Länder zu analysieren und deren Auswirkungen zu verdeutlichen: So unterstützt Frankreich die Forderungen des Südens, wie französische Banken in großem Umfang an italienische Banken Kredite vergeben haben, um deren Rückzahlung sie fürchten müssen. Via Corona stecken sich also zunächst Frankreich und dann auch Deutschland mit dem schon lange wirkenden Stagnationsvirus der südeuropäischen Krisen an. „Die Corona-Epidemie und die Finanzkrise sind nur Brandbeschleuniger, die aus einer gravierenden wirtschaftlichen Schieflage, die der Euro zwischen Nord- und Südeuropa erzeugt hat, eine akute Wirtschaftskrise in Südeuropa und eine Krise der EU an sich gemacht haben.“

Vielfach bringt Sinn neue, oft unerwartete Sichtweisen ins Spiel: „Viele denken, bei dem großen Corona-Fonds geht es darum, Italien zu retten, es geht aber vor allem darum, die Gläubiger des italienischen Staates zu retten.“ Und an anderer Stelle: „Wundern kann man sich in dem Zusammenhang nur, dass gerade die linke Presse bei der Frage der Rettungsarchitektur des Eurosystems stets für die Gemeinschaftshaftung und für den Bail-out überschuldeter Finanzsysteme votiert. Das Motiv hierfür ist sicherlich die tief verwurzelte und im Grundsatz ja nicht falsche Idee der Solidarität. Doch ironischerweise schützen die Linken damit vor allem das Finanzkapital, das Leuten gehört, denen sie ansonsten nicht sonderlich zugeneigt sind.“ Und fährt fort: „Wie so häufig gilt auch in diesem Fall, dass die Verbindung aus einer moralischen Grundposition wichtiger gesellschaftlicher Gruppen mit einem gravierenden Profitmotiv eines besonderen Wirtschaftszweiges auf wundersame Weise einen medialen Konsens erzeugt, gegen den man mit Argumenten kaum noch ankommt.“

Intensiv diskutiert Sinn die Folgen dieser so seltsam motivierten Rettungspolitik. Ungeheure Staatsverschuldung ist die Folge. Während beispielsweise der Betriebswirt Daniel Stelter mit der ungeheuren Geldaufblähung keine Probleme hat, weil er rein bilanzierend und damit verkürzt argumentiert, hat Sinn einen sehr viel breiteren Blickwinkel: Theoretisch sei die Geldschwemme beherrschbar – aber die politischen Systeme werden die richtigen Maßnahmen nicht ergreifen können oder wenn, dann viel zu spät. Sinn sieht als Folgen eine drohende Hyperinflation und die Gefahr des Zerbrechens von Euro und EU.

Wachstum kann man nicht kaufen

Die Europäische Zentralbank „hat die Zentralbankgeldmenge durch ihre Wertpapierkaufaktionen und durch billige Kreditvergabe aus der Druckerpresse schon fast vervierfacht: von 900 Milliarden im Juli 2008 auf 3,2 Billionen Euro Ende 2019. Und zusammen mit den neuen Beschlüssen, die für dieses Jahr getroffen worden sind, kommen jetzt noch mal 1,7 Billionen Euro dazu. Dann sind wir bei knapp fünf Billionen Euro. Das wäre dann schon eine Verfünffachung der Zentralbankgeldmenge gegenüber dem Sommer 2008, ohne dass die reale Wirtschaft in Europa inzwischen sonderlich gewachsen wäre. Tatsächlich liegt die Wirtschaftstätigkeit im Jahr 2020 nur unwesentlich über dem Niveau von damals. Und das bedeutet, dass der Geldwert gefährdet ist.“

Er diskutiert ausführlich die Chancen für Wachstum und Stabilität durch die Rettungsprogramme. Um es kurz zu machen: Auch mit frisch gedrucktem Geld kann man Wachstum nicht kaufen – im Gegenteil. Gerade das ist das zentrale Herzstück von Sinns Argumentation: Wachstum kann man nicht kaufen; Schulden werden irgendwann eingefordert, und je später, umso höher und gegen umso höheren Widerstand der Bevölkerung. Er zerschlägt das Sonntagsporzellan der europäischen Wirtschaftspolitik, gerade so, als ob er das Tischtuch mit allem, was darauf steht, mit einem Ruck wegziehen würde, sodass alle wohlfeilen Worte und Argumentationsgirlanden zerscheppern. Dieser Teil seines Buches weist weit über die aktuelle Corona-Krise hinaus.

Das Buch ist sorgfältig in Kapitel gegliedert, an deren Anfang eine Frage zu einem ökonomischen Sachverhalt steht. Das macht es leicht verständlich und konsumierbar; so wird es fast auch zu einem ökonomischen Nachschlagewerk. Denn Sinn ordnet Corona ein. Das macht das Buch unbedingt lesenswert und gleichzeitig unbequem. Nicht alles kann man Corona in die Schuhe schieben; wobei Sinn auch noch bunt beschreibt, wie Corona zum Vorwand für komplett sachfremde Politik genommen wird. Während er einerseits Verständnis hat für Politiker, die in unsicherer Lage weitreichende Entscheidungen treffen müssen, so schonungslos ist er andererseits mit der Analyse von Fehlentscheidungen, die als solche früh erkennbar waren. Dass sie nicht korrigiert wurden, zeigt die Schwäche und Unfähigkeit der deutschen Politik, Fehler einzusehen und zu korrigieren. Jetzt allerdings werden sie erneut wiederholt – wegen Corona …

Besprochen wird: Hans-Werner Sinn, Der Corona-Schock. Wie die Wirtschaft überlebt. Verlag Herder, 2020, 224 Seiten.


Prof. Dr. Hans-Werner Sinn wurde 2013 mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet. Der Autor der Besprechung Roland Tichy ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung.

DRUCKEN
DRUCKEN