Zu einem demokratischen, auf Freiheit basierenden Rechtsstaat gehört der Respekt vor dem Recht und den Gerichten. Das gilt ganz besonders für das oberste aller Gerichte, das Bundesverfassungsgericht. Das fällt nicht immer leicht, manchmal aus juristischen, manchmal aus politischen Gründen. Oft fallen beide Aspekte auch zusammen, denn juristisch unbefriedigend begründete Urteile haben oft politische Motive. So war es wohl bei dem sogenannten „Klima-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021, in dem den staatlichen Instanzen Prognosen für CO²-Minderungen ab dem Jahr 2031abverlangt wurden, die in einer dynamischen und innovativen Wirtschaftsordnung vernünftigerweise niemand geben kann. Aus der Anwendung eines solchen Urteils entstünde eine bürokratische „Planungswirtschaft“ mit geringer Innovationskraft.

Nun hat es mir am Dienstag das Bundesverfassungsgericht erneut schwer gemacht, die Beweggründe einer Entscheidung zu verstehen. Worum ging es? Im Juli 2020 vereinbarten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie den schuldenfinanzierten EU-Sonderfonds „Next Generation EU“ (NGEU). Mit einem sogenannten Eigenmittelbeschluss genehmigte sich der Rat, bis 2026 an den Kapitalmärkten Mittel bis zu einem Betrag von 750 Milliarden Euro aufzunehmen. Der Bundestag hat dem Eigenmittelbeschluss 2020 später zugestimmt.

Mit der jetzt getroffenen Gerichtsentscheidung scheint es so zu sein, dass ein vertraglich niemals beabsichtigtes eigenständiges Recht der EU-Institutionen zur Aufnahme von Schulden mit dem deutschen Verfassungsrecht vereinbar ist. Das wäre eine weitere sehr gefährliche Zeitenwende. Manche werden jetzt frustriert sagen, es ja nun einmal geschehen und ihre besorgten Gedanken pflegen. Das ist aus meiner Sicht nicht die richtige Haltung. Der Kampf um ein stabiles Europa ist nicht gescheitert und nicht zu Ende. Zwei Gründe will ich dafür nennen. Zum einen lässt das unsicher formulierte Urteil die Hintertür der „Einmaligkeit“ der Finanzierung offen. Hier muss man ansetzen und auf die „Einmaligkeit“ bestehen und weitere solche Urteile von Anfang an argumentativ zu erschweren. Zum anderen hat der Bundesverfassungsrichter und ehemalige Ministerpräsident Peter Müller in einem beachtenswerten Minderheitenvotum schon alle kritischen Argumente zu Papier gebracht und es wäre töricht, das nicht zu nutzen.

Zunächst aber zur unsicheren Begründung der Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht stellt selbst fest, dass es kein Recht der EU zur eigenständigen Schuldenfinanzierung gibt. Allerdings müsse eine Verletzung dieses Grundsatzes „offensichtlich“ sein. Das ist der Fluchtpunkt des Gerichts: „Die Annahme, dass Art.5 Eigenmittelbeschluss 2020 die Anforderungen an die Ermächtigung der Europäischen Union zur Aufnahme von Krediten an den Kapitalmärkten als sonstige Mittel im Sinne von Art.311 Abs.2 AEUV wahrt und die haushaltsverfassungsrechtlichen Grundsätze des Primärrechts beachtet, ist nicht offensichtlich fehlerhaft.“ Bitte beachten Sie das Juristen-Deutsch – hier steht nicht, es ist „offensichtlich nicht fehlerhaft“, hier steht: es ist „nicht offensichtlich fehlerhaft“. Das geht im Text auch so weiter. Zu der Inanspruchnahme der Notfallklausel in Artikel 122 der Europäischen Verträge heißt es dann: „Dass sich Art.4 und Art.5 Eigenmittelbeschluss 2020 auch in der Sache auf Art.122 Abs.1 oder Abs.2 AEUV stützen lassen, erscheint zwar fraglich, ist im Ergebnis jedoch nicht offensichtlich ausgeschlossen.“ Das Gericht nutzt den Interpretationsspielraum des Kriteriums „erheblich oder unerheblich“, um die sicherlich folgenreichen Entscheidung, den Europäischen Gerichtshof anrufen zu müssen, zu umgehen. Das ist eine Steilvorlage für die EU-Bürokratie und interessierte Nachbarländer, es in kommenden Jahren immer wieder auf die gleiche Weise zu versuchen.

Ich entschuldige mich nun für etwas ermüdende juristische Formulierungen. Aber das Minderheitenvotum von Peter Müller verdient eine längere Strecke des Zitats. Er schreibt: „Den Vorhang zu und alle Fragen offen scheint mir keine geeignete Maxime zum effektiven Schutz des grundrechtsgleichen Rechts auf Demokratie aus Art.38, Abs.1, Satz 1 GG zu sein. Dennoch lässt die Senatsmehrheit in ihrer Entscheidung nahezu alle relevanten unionsrechtlichen Fragen unbeantwortet, verweigert den Dialog der europäischen Verfassungsgerichte, nimmt eine Verletzung der Integrationsverantwortung in Kauf und deutet einen Rückzug des Senats aus der materiellen Ultra-vires-Kontrolle an. […] Die Senatsmehrheit geht zutreffend davon aus, dass durch den Rückgriff auf sonstige Einnahmen gemäß Art.311 Abs.2 AEUV die Finanzierung der Europäischen Union durch Eigenmittel nicht umgangen werden dürfe. Dass dem vorliegend Rechnung getragen wird, ist nicht nachvollziehbar. Dagegen spricht, dass die vorgesehenen Kreditmittel in den Jahren 2021 und 2022 die Eigenmittel des Mehrjährigen Finanzrahmens um mehr als das Doppelte übersteigen. Für die Gesamtdauer des Mehrjährigen Finanzrahmens bis 2027 steht einem Haushaltsvolumen in Höhe von 1.074 Milliarden Euro ein Kreditvolumen von 750 Milliarden Euro gegenüber. Damit tritt über den gesamten Zeitraum des mehrjährigen Finanzrahmens gesehen die Kreditfinanzierung als annähernd gleichwertige „zweite Säule“ neben die Eigenmittelfinanzierung der Europäischen Union. Dies streitet dafür, dass Art. 5 Eigenmittelbeschluss 2020 den primärrechtlichen Kompetenzrahmen überschreitet und auf eine grundlegende Veränderung der Finanzarchitektur der Europäischen Union gerichtet ist. […] Mit der Hinnahme des Eigenmittelbeschlusses 2020 öffnet die Senatsmehrheit den Weg zu einer grundlegenden Veränderung der Finanzarchitektur der Europäischen Union, die durch ein dauerhaftes, nahezu paritätisches Nebeneinander von Eigenmitteln und Kreditaufnahmen geprägt ist. Die Haushaltsstrukturen der Europäischen Union verändern sich damit evident in Richtung auf eine Fiskal- und Transferunion. Zwar mag es dafür sehr gute politische Gründe geben. Dies ändert jedoch nichts daran, dass in keiner Weise ersichtlich ist, dass diese Haushaltsarchitektur dem Integrationskonzept, wie es in Art.310ff. AEUV festgelegt ist, entspricht. Der Weg zur Transformation der Europäischen Union in eine Transfer- und Verschuldungsunion führt daher nach meiner festen Überzeugung nur über eine Änderung der Verträge im Verfahren nach Art. 48 EUV.“

Es wird Peter Müller zu verdanken sein, dass sich die Debatte weiter lohnt. Aber sie muss geführt werden und sie ist auch zu gewinnen. Die Mehrheit der Menschen will keine Transferunion, unser Grundgesetz verbietet sie. Das Urteil ist falsch, aber nicht das Ende.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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