Der Koalitionsvertrag liegt vor. 177 Seiten gefüllt mit Ankündigungen und Zielen. Ein solcher Vertrag ist ein wichtiger Baustein für eine stabile Regierung. Seit 12 Jahren wurden die jeweiligen Legislaturperioden später jedoch immer von anderen Fragen dominiert. Zunächst war es die Wahlperiode der Finanzkrise, dann die der Flüchtlings-Dramen und nun die der Corona-Pandemie. So ist also keineswegs gewiss, dass die Hoffnung der neuen Koalitionäre Wirklichkeit und diese Wahlperiode als Zeit der „Transformation“ in Erinnerung bleiben wird. Dennoch ist es klug, das Ziel ernst zu nehmen.

In einem respektablen Verfahren wurde ein durchaus respektables Programm entworfen und die Mannschaft, die es umsetzen will, scheint sich, was die Umsetzung angeht, jedenfalls zu verstehen. Das alles sind gute Voraussetzungen, wenn man als Staatsbürger darauf hofft, dass eine neue Regierung das Land jedenfalls nicht ins Chaos führen will. Alle Facetten der Zukunftspläne lassen sich nicht in 48 Stunden analysieren, und so tauchen zunächst die großen Linien auf, aber erste Einschätzungen sind bereits jetzt möglich.

Beginnen wir beim Kern der Wirtschaftsordnung. Die neue Regierungsformulierung von der „sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ taucht immerhin neun Mal in dem langen Text auf. Schon in der Einleitung wird jedoch der grundlegend veränderte Sinn deutlich: „Es gilt, die soziale Marktwirtschaft als eine sozial-ökologische Marktwirtschaft neu zu begründen. Wir schaffen ein Regelwerk, das den Weg frei macht für Innovationen und Maßnahmen, um Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen“ (Zeilen 53 – 55). Für die Anhänger Erhards beginnt die Irritation schon bei der Schreibweise. Die „Soziale Marktwirtschaft“ ist mehr als eine Marktwirtschaft, die sozial ist. Sie ist auch kein Regelwerk, dass man neu begründen könnte. Die „Soziale Marktwirtschaft“ ist eine Vision von Freiheit und Wohlstand, eingebettet in den Gedanken des friedlichen Miteinanders. Sie will nicht ein bestimmtes – noch so wichtiges – Ziel erreichen, sondern jedem Bürger und jedem Unternehmen das Recht auf eigenes Glück und die Last, das eigene Risiko selbst zu tragen, anheimgeben.

Liest man den Koalitionsvertrag, bleiben viele praktische Fragen offen. Nehmen wir als Beispiel das Ziel, dass im Jahr 2030 15 Millionen vollelektrisch betriebene Autos auf unseren Straßen fahren sollen. Das sind in den kommenden neun Jahren 50 Prozent aller Neuwagen-Zulassungen der letzten neun Jahre. Gleichzeitig sollen aber aus Rücksicht auf die Wähler die Kosten für den CO2-Ausstoß der Autos nicht ansteigen. Damit ist der marktwirtschaftliche Weg versperrt. Das Wort „Regelwerk“ in der Definition der neu zu begründenden Marktwirtschaft muss also viel mit Verboten und Subventionen zu tun haben, anders bleibt das Ziel unrealistisch. Die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards würde die Herausforderung über den Preis lösen. Weil dazu der Mut fehlt, wird der Markt in ein „Regelwerk“ gesteckt.

Ludwig Erhard hätte auf das Geld geschaut. Auf solides Wirtschaften. Der Koalitionsvertrag fordert keine neuen und keine höheren Steuern. Das ist sicher ein wichtiges Verdienst der FDP. In Kombination mit der Schuldenbremse, die weder FDP noch CDU/CSU aufgeben werden, stehen die Chancen für eine wachstumsfreundliche Finanzpolitik gut. Die ambitionierten Ziele, gerade unter dem häufig genutzten Begriff der Transformation (er wird 42-mal erwähnt), können nur mit privatem Kapital erreicht werden. Das lässt hoffen, auch wenn allzu oft mit den Garantien der Staatsbank KfW, der Kreditanstalt für Wiederaufbau, gewunken wird.

Das Mantra der Transformation wird mit der Begründung überhöht, nur so könne der Planet gerettet werden. Das schafft eine scheinbare unerreichbare moralische Höhe. Manche Aktivisten außerhalb des Parlaments sehen ja nur noch Klima-Ziele, was auch immer ihre Durchsetzung kosten möge. Hier wird die sicher größte Herausforderung der neuen Koalition liegen. Viele der sektorspezifischen Ziele, wie zum Beispiel die 15 Millionen E-Autos, sind nur schwer oder fast nicht erreichbar. Das gilt für Energieeinsparziele ebenso wie für Produktionskapazitäten erneuerbarer Energien. Das neue Gesamtkonzept muss in den nächsten sechs Monaten erarbeitet und beschlossen werden. Dann sollen die Ziele jedes Jahr überprüft werden. Wird die FDP sich gegen immer mehr Regulierung und zusätzliche Verbote behaupten können? Die Verwaltungsverfahren, allerdings nur für eine Stromtrasse oder Schiene, nicht für eine Straße, sollen zeitlich halbiert werden. Werden die Grünen diese Umkehr schaffen?

In Deutschland schlummern ungeheure Kräfte. Die mangelnde Übereinstimmung der Großen Koalition der vergangenen acht Jahre hat verhindert, dass diese Kräfte ausreichend mobilisiert wurden. Es müssen alle Ideen auf den Tisch, Investoren müssen Lust auf Deutschland haben, und die einstmals berühmte deutsche Verwaltung muss sich als digitaler Möglichmacher neu erfinden. Das Programm der nächsten Regierung Deutschlands schließt das nicht aus. Aber man hätte sich gewünscht, dass der Gedanke der Transformation doch mehr auf die dynamischen Kräfte der Freiheit und weniger auf die planerische Klugheit von Bürokratien vertrauen würde.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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