Für die Stabilität in Europa ist der Rückzug von Jens Weidmann ein großer Verlust. Natürlich sind wir befangen, denn wir reden auch über ein angesehenes Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung. Wir kennen und schätzen den Präsidenten der Deutschen Bundesbank als ruhigen, kenntnisreichen und beharrlichen Interessenvertreter einer stabilitätsorientierten Geldpolitik. Seine Aufgabe im Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) war in den letzten Jahren nicht einfach. Auch schon vor der Corona-Krise galt es, in angemessener Form Bestrebungen zu bremsen, die mehr und mehr einer monetären Staatsfinanzierung gleichkamen und nicht dem deutschen Verständnis einer unabhängigen Notenbank entsprachen.

Weidmann sah keine Chance, Präsident der EZB zu werden, denn zu viele waren und sind in den Euro-Staaten daran interessiert, die verbindliche Orientierung am zentralen Ziel der Geldwertstabilität mit anderen Zielen in Abwägung zu bringen. Geldwertstabilität ist in anderen Staaten, ja sogar in den USA, nur eines von mehreren Notenbankzielen, wie zum Beispiel dem der Vollbeschäftigung.

Es braucht nicht viel Fantasie, um festzustellen, dass Ludwig Erhard mit einer europäischen Währung und der damit verbundenen Einschränkung der Eigenständigkeit der deutschen Notenbank seine Probleme gehabt hätte. Manche vermuten, er hätte den Weg abgelehnt. Er hatte die möglichen Probleme ja schon damals erkannt: „Wollte man den Versuch unternehmen, alle betriebswirtschaftlichen Kostenelemente von Land zu Land […] auszugleichen, […] bedeutet dies nicht Integration, sondern eine Desintegration schlimmsten Ausmaßes.“, wie er in seinem Buch „Wohlstand für Alle“ im Jahr 1957 ausgeführt hat. Ich persönlich vermute gleichwohl, dass die Argumente für eine Schaffung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsraums mit einer weltweit anerkannten Leitwährung im Rücken angesichts des Wettbewerbs der Kontinente auch für Ludwig Erhard wichtig gewesen wären. Die Bedenken, die Ludwig Erhard hatte, teilte schon Weidmanns Vorgänger Axel Weber. Nach ihm legt zum zweiten Mal ein Bundesbankpräsident sein Amt vorzeitig nieder.

Diese Entwicklung ist ganz offensichtlich mehr als eine nationale Eitelkeit. Die Entscheidung von Jens Weidmann trifft zusammen mit dem Startschuss für die Überprüfung des „Stabilitäts- und Wachstumspakts“ der Europäischen Union. Im Jahr 2023 muss es eine Übereinkunft über die Fortsetzung dieses Paktes geben. Die Frage nach der Bedeutung der Geldwertstabilität und nach der Eindämmung der Staatsverschuldung sind für die Arbeit der Notenbank, wie auch für ganz Europa zentrale Fragestellungen.

„Wollte man den Versuch unternehmen, alle betriebswirtschaftlichen Kostenelemente von Land zu Land […] auszugleichen, […] bedeutet dies nicht Integration, sondern eine Desintegration schlimmsten Ausmaßes.“ (Ludwig Erhard, 1957)

Das Thema Staatsschulden ist damit auf der Tagesordnung. Italien und Frankreich sinnen nach Wegen, der deutschen Politik eine höhere Verschuldung schmackhaft zu machen. Mehr als 60 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsproduktes soll kein Land an Schulden vor sich herschieben. So ist es im Stabilitäts- und Wachstumspakt geregelt. Derzeit beträgt der öffentliche Schuldenstand im Euroraum 100,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (Eurostat, 1. Quartal 2021). Länder wie Italien sind nach der Corona-Krise bei schwindelerregenden 160 Prozent angekommen. Der EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni will den hohen Schuldenstand „vernünftig und wirklichkeitsnah“ angehen, der französische Finanzminister Bruno Le Maire bezeichnet die Schuldenregeln als „teilweise obsolet“.

Natürlich kann man die Schulden nicht über Nacht tilgen, schon gar nicht, wenn wir immer noch auf einem schwierigen Weg aus der Krise sind. Aber die meisten Politiker, möglicherweise auch in Deutschlands neuer Regierung, setzen den politischen Schwerpunkt auf neue große Ausgaben, besonders für die Bereiche Energie und Verkehr. Allein der Green Deal soll ja bis zu 500 Milliarden Euro an öffentlichen und privaten Investitionen im Jahr erfordern. Da stört eine auf Stabilität verpflichtete Notenbank, die tendenziell die Zinsen anheben wird, und da stört ein Stabilitätspakt, der eine strikte Reduzierung der Schulden durch marktgerechte Wachstumspolitik herbeiführen soll.

Eine Staatengemeinschaft hat es schwerer mit einer einheitlichen Finanz- und Währungspolitik als ein einzelner Nationalstaat. Wenn die Loyalität zu verbindlichen Regeln verloren geht, kann das gesamte Gebilde ins Wanken geraten. Weder unser Verfassungsgericht noch die Mehrheit der Deutschen würden hinnehmen, dass staatliche Politik die Handlungsfreiheit der Generationen der Kinder und Enkel zerstört und durch Inflation die Alterssicherung der Eltern obendrein.

Die Politik dieser Tage verspricht zu viel Geld. Wenn der Kampf gegen den Klimawandel teuer ist, dann wird die jetzt arbeitende Generation einen großen Teil schultern müssen. Das muss sozial fair geschehen, aber es wird eine Belastung des verfügbaren Einkommens bedeuten. Die Alternative wäre ja eine Belastung des verfügbaren Einkommens der nächsten Generationen. Zugleich muss die Politik, ob in Italien, Griechenland oder Deutschland, die Ehrlichkeit besitzen, unbequeme Entscheidungen zu treffen. Man kann nicht den Arbeitsmarkt aller Elemente des Marktes berauben – von staatlichem Mindestlohn bis faktischem Kündigungsverbot, und man kann nicht neue Industrieanlagen durch endlose Genehmigungsverfahren jagen, um sich dann zu wundern, dass kein Geld für die neuen Herausforderungen da ist. Das Drucken von Geld, um neue Schulden aufnehmen zu können, muss tabu bleiben, auch wenn es für die jetzige Generation der einfachste Weg wäre. Dies sicherzustellen ist die Aufgabe der Notenbank, und ihr dies zu ermöglichen, die Aufgabe des Stabilitätspaktes.

Dass dies keine einfach zu bewältigende Aufgabe sein wird, zeigte sich schon am Dienstag mit dem Thesenpapier der Europäischen Kommission. Am Mittwoch wurde die Herausforderung mit dem Rücktritt des Bundesbankpräsidenten noch einmal verschärft. Jens Weidmann selbst hat in seinem Brief an die Mitarbeiter der Bundesbank eindringlich geschrieben: „Eine stabilitätsorientierte Geldpolitik wird dauerhaft nur möglich sein, wenn der Ordnungsrahmen der Währungsunion die Einheit von Handeln und Haften sichert, die Geldpolitik ihr enges Mandat achtet und nicht ins Schlepptau der Fiskalpolitik oder der Finanzmärkte gerät. Dies bleibt meine feste persönliche Überzeugung genauso wie die hohe Bedeutung der Unabhängigkeit der Geldpolitik.“ Ludwig Erhard hätte diesen Sätzen voll und ganz zustimmen können.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung.

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