Im letzten Kommentar war der „politische Mindestlohn“, der wahrscheinlich heute vom Deutschen Bundestag endgültig beschlossen wird, ein Thema. Aber das ist nicht der einzige Verstoß gegen die Grundregeln der Sozialen Marktwirtschaft. Weitere Beschlüsse der letzten Woche verstärken den Eindruck, dass  vor allem die Ampel-Koalition ein Sozialstaatsverständniss entwickelt, das kaum noch etwas mit  dem eigentlichen Begriff der Solidarität zu tun hat, sondern vielmehr einer planwirtschaftlichen, staatlichen Einkommensgarantie entspricht. Der Staat hilft danach nicht nur in unverschuldeter ökonomischer Not. Nein, er nimmt sich das Recht heraus, zu definieren, was „gerechtes“ Einkommen mindestens erfordert und teilt es zu. Finanziert wird das von allen, die durch eigene Erwerbsleistung oder Nutzung eigenen Vermögens mehr verdienen. Das sind alle Steuerzahler.

Nach dem Mindestlohn ist der nächste Schritt die sehr weitgehende Rücknahme der von Gerhard Schröder seiner Partei aufgezwungenen Hartz-Reformen. Bert Rürup hat diese Entwicklung im Handelsblatt korrekt zusammengefasst: „Die Hartz-IV-Leistungen werden zum fast bedingungslosen Grundeinkommen“. (Zum Beitrag) Für diese Korrektur gibt es keine akzeptable Begründung. Im Gegenteil, die Reformen haben zu einer deutlich höheren Beschäftigung gerade auch bei niedrigeren Einkommensbeziehern geführt. Viele sind in Stufen aus der staatlichen Förderung erstmals oder wieder in die auskömmliche Erwerbsarbeit gekommen.

Die Reformen, die 2004 in Kraft gesetzt wurden und an denen der Verfasser als ein Vertreter des Bundesrates intensiv mit verhandelte, hatten den klaren Zweiklang von „Fördern und Fordern“. Manche Erfahrungen kamen aus dem amerikanischen Bundesstaat Wisconsin, dessen erfolgreiches Modell später von Bill Clinton für ganz Amerika übernommen wurde. Wer eigene zumutbare Anstrengungen unterlässt oder zumutbare Arbeit ablehnt, verliert jedenfalls einen Teil des Anspruchs, von den übrigen Steuerzahlern unterstützt zu werden.

Mir hat ein ausländischer Politiker dieses auch in seinem Land angewandte Prinzip des Förderns und Forderns einmal mit dem Leitsatz „Wir bieten Angeln und keinen Fisch“ beschrieben. Das mag provokativ klingen, es beschreibt aber die soziale Verantwortung einerseits und den Respekt vor dem hart erarbeiteten Einkommen der Mehrheit der Gesellschaft sehr zutreffend.

Die Regierung nennt die neue Unterstützung für Menschen, die längere Zeit arbeitslos sind und bisher „Arbeitslosengeld II“ erhielten, nun „Bürgergeld“. Vermeintlich ist das die Einlösung des Versprechens von Bundeskanzler Scholz, „Respekt“ zu zeigen. Es ist aber in Wirklichkeit ein falscher und respektloser Begriff. Zum einen suggeriert er denjenigen, die das Sozialsystem zu ihrer persönlichen Bequemlichkeit ausnutzen wollen, sie hätten einen legitimen Anspruch auf die Unterstützung durch die Arbeitseinkommen der Übrigen. Zum anderen dürfen die Millionen von Arbeitnehmern und Rentnern, die Steuern zahlen, den Respekt erwarten, dass nur „denen, die ohne eigenes Verschulden […] nicht mehr unmittelbar am Produktionsprozess teilhaben können […]“ (Ludwig Erhard, 1957, WfA), finanzielle Unterstützung gewährt wird. Rürup schreibt zu Recht: „Nicht zuletzt ist es Aufgabe des Sozialstaates, all jenen zu helfen, die in Not geraten sind, sei es durch individuelle Schicksalsschläge oder infolge von Strukturwandel.“ Und eben nur da.

Wenn man die Idee des staatlich garantierten Einkommens noch eine Stufe weitertreiben möchte, muss man in diesen Tagen nur der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey, zuhören. Sie schlägt vor, dass die Mietzahlung jedes Bürgers auf 30 Prozent des Einkommens begrenzt wird. Der Staat würde also auf Kosten der Steuerzahler 70 Prozent des Einkommens zur freien Verfügung „garantieren“, was auch immer die Wohnung eigentlich kostet.

Gerhard Schröders Hartz-Gesetze hatten klargestellt, dass ein Teil des Anspruchs für den verfällt, der sich weigert, eine Aus- und Weiterbildung zu absolvieren oder der mehrmals Job-Angebote nicht wahrnimmt, und zugleich wurde aus Respekt vor den Steuerzahlern geregelt, dass die Betroffenen ihr eigenes Vermögen zuerst einsetzen müssen und nicht jede beliebig große Wohnung vom Staat finanziert wird. Von alledem bleibt fast nichts, denn das Bürgergeld soll ja eher ein Grundeinkommen sein.

Ludwig Erhards Warnungen vor Übertreibungen sind deshalb heute so aktuell wie damals. Wir dürften uns nicht verleiten lassen, so mahnte er, „zu einer Sozialpolitik […], die vielleicht das Gute will, aber […] die Zerstörung einer guten Ordnung schafft“ (Ludwig Erhard, 1962, in: GafJ, S. 733). Wir können nur verteilen, was erarbeitet wurde. Der Wert unserer Arbeit misst sich an Angebot und Nachfrage. Ob Mindestlohn oder bedingungslose Sozialfinanzierung, dies alles stört die Findung des besten Preises zum größten Wohlstand aller. Diese paternalistische, staatliche Umarmung mag gerade in Zeiten großer Unsicherheit populär sein, aber sie mindert den Wohlstand.

Auf uns kommen schwierigere Zeiten zu, als wir sie gewohnt sind. Es wird für viele Menschen Wohlstandseinbußen geben. Der Staat darf nicht den Eindruck erwecken, er könne das ausgleichen. Die Verteidigung unseres Wohlstandes wird erfordern, dass wir mehr arbeiten müssen und nicht tolerieren können, dass Zahlungen aller Art den Anreiz für Beschäftigung reduzieren. Der Begriff Bürgergeld in der neuen sozialen Sicherung ist ein propagandistischer Trick. Das dazu gehörende Verständnis von Sozialstaat ist respektlos gegenüber der Mehrheit. Auch der Markt für Arbeit ist ein Markt! 1,7 Millionen offene Stellen sind für viele Abgeordnete offensichtlich kein Argument.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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