Am vergangenen Montag haben Wissenschaftler der Nationalen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina) in einem eindringlichen Appell unter der Überschrift „Den kritischen Zeitpunkt nicht verpassen“ zur Energiepolitik in Deutschland Stellung genommen. Mitglieder und Freundeskreis der Ludwig-Erhard-Stiftung hatten am gleichen Abend die Gelegenheit, darüber mit der Wirtschaftsweisen, Prof. Veronika Grimm, zu diskutieren, die nicht nur zu den Autoren der Stellungnahme gehört, sondern auch Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung ist. (Übrigens, Mitglied des Freundeskreises können Sie hier werden: https://www.ludwig-erhard.de/die-stiftung/freundeskreis/)

Die Regierung plant mit unrealistischen Szenarien

Das Papier der Leopoldina ist ein dramatischer Aufruf, der zusammenfasst, was derzeit so vielen Verantwortlichen in Wirtschaft und Behörden durch den Kopf gehen muss. Wir arbeiten mit Plänen und Szenarien für das Jahr 2030, von denen man mit der Erfahrung der letzten Jahrzehnte sicher sein kann, dass sie so nicht eintreten. Der Bundeskanzler spricht vom Bau von vier bis fünf Windrädern am Tag. Aber von Januar bis Mai 2022 sind in ganz Deutschland 99 neue Windkraftanlagen errichtet worden, also etwa eine halbe Anlage pro Tag! Für die Verzehnfachung des Ausbaus gibt es keine Genehmigungen, zu wenig Investoren und keine ausreichende Produktionskapazität. Gleichzeitig sollen von heute bis 2030 täglich bis zu 40 Flächen in der Größe von Fußballplätzen mit Solaranlagen bebaut werden. Kein Mensch glaubt das. Die Stromleitungen in den Wohnstraßen reichen nicht für Wärmepumpen und E-Autos, und Energieversorger verlangen die Zwangsbewirtschaftung aller Haushalte im Stromverbrauch. Bis 2030 sollen zudem 30 Gaskraftwerke errichtet werden, obwohl binnen sechs Jahren in den letzten Jahrzehnten kein einziges Kraftwerk auch nur genehmigt wurde. Gerade wenn man die Energiewende für unumkehrbar notwendig hält, muss man die höchste Alarmstufe ausrufen, die da gerade provoziert wird.

Wir brauchen jede Tonne Wasserstoff

Wichtig ist, den Zusammenbruch einer sicheren und finanziell verkraftbaren Stromversorgung zu vermeiden. Allerdings wird Strom auf lange Zeit nicht preiswert sein. Einige wichtige Hinweise kann man der Stellungnahme der Leopoldina-Wissenschaftler entnehmen: Wasserstoff ist zwar der Schlüssel zur Lösung der Probleme, aber die notwendige Menge kann nicht ausschließlich in Deutschland hergestellt werden. Wir sind deshalb auf Importe angewiesen. Außerdem muss der Transport gewährleistet werden. Aber den politisch motivierten Drang, staatlich zu bestimmen, wo der Wasserstoff herkommen und wie er produziert werden soll, können wir uns nicht leisten. Nach 2030 kann man durch eine kluge Abgabenpolitik erreichen, dass das gesamte Angebot an Wasserstoff immer grüner wird. Erst einmal muss es aber genug davon geben.

CO²-Speicherung und Nutzung muss schnell kommen

Wir wissen heute, dass wir mit dem CO²-Budget, dass wir als noch zulässige Emission im Pariser Abkommen vereinbart haben, nicht auskommen werden. Weder überlebt einen solch radikalen Schritt unsere Industrie, noch passt es zu den Plänen, 30 neue Gaskraftwerke zu bauen. Also müssen wir uns um die Abtrennung von CO2 aus der Luft kümmern, auch das wäre klimagerecht! In Deutschland gibt es jedoch keine einzige geplante oder gar genehmigte Lagerstätte. Vielleicht helfen uns Norwegen und Dänemark, die bereits startklar dafür sind. In Deutschland werden weder die Abtrennung noch die Nutzung von CO² als Rohstoff gefördert. In den USA gibt es einen Zuschuss zu jeder so abgetrennten Tonne CO2.

Markt statt staatlicher Planung

Wenn die ideologischen Blockaden gelöst und die entsprechenden marktwirtschaftskonformen Anreize berechenbar geschaffen werden, kann es vielleicht gerade noch gut gehen. Jeder Tag, an dem stur an fast aberwitzigen Szenarien – wie fünf Windräder pro Tag – festgehalten wird, kommen wir näher an den ökonomischen Abgrund. Wir sind gerade dabei, den „kritischen Zeitpunkt“ zu verpassen.

Gemeinsames Vorgehen in Europa nötig

Europa wendet sich vom deutschen Weg zunehmend ab. Das wird in der Diskussion über die Nutzung der Kernenergie deutlich. Wir werden in wenigen Tagen in Deutschland die letzten Kernkraftwerke abschalten, obwohl es dafür keinen einzigen vernünftigen Grund gibt. Frau Prof. Grimm und viele andere kritisieren das schon seit geraumer Zeit in Deutschland. In Europa versteht die Abkehr Deutschlands von der Kernkraft niemand. Allerdings hat auch niemand Mitleid mit uns angesichts der selbst geschaffenen Risiken. Ich fürchte, in Deutschland ist der Zug in Sachen nuklearer Energiegewinnung in die falsche Richtung abgefahren; auch die Leopoldina-Stellungnahme kommt darauf nicht zurück. Aber Deutschland wird auf eine Integration in die europäische Energieversorgung angewiesen sein. Deshalb muss Deutschland seinen ideologischen Widerstand gegen die Kernkraftnutzung in Europa aufgeben. Auch Wasserstoff wird am Anfang nicht nur aus Gaskraftwerken, sondern auch aus der Grundlast von Kernkraftwerken kommen (müssen).

Alle Schleusen für Strom öffnen

Die Architekten der Energiewende versuchen, mit immer mehr staatlichen Vorgaben die Situation zu retten. Bald werden wir sehen, dass der Staat die Gaskraftwerke finanzieren muss, dass die Verbrennungsmotoren abgeschafft werden anstatt E-Fuels zuzulassen; der Strom wird für jeden Haushalt zwangsbewirtschaftet und der Energiemix wird nicht vom Markt, sondern durch Gesetz bestimmt. Richtig wäre es, Panik zu vermeiden, alle Schleusen für das Angebot an CO2-neutraler Energie, besonders Wasserstoff, zu öffnen und der Beseitigung von CO² aus der Luft den Weg zu ebnen. Der Markt könnte diese Ziele erreichen. Die Regierungsverwaltung sicher nicht!

Wir sollten nicht unterschätzen, dass die Entscheidungen der letzten Jahre dazu führen, dass unsere Lebensweise umfassender als bisher vom Strom abhängt. So brauchen wir davon doppelt so viel wie aktuell in Deutschland und ein unüberschaubar Vielfaches in der Welt. Wir schulden den nächsten Generationen nicht nur die Anstrengungen für das Klima, sondern auch die Energiesicherheit für Wohlstand und Freiheit.

Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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