Schon im Juni hatte ich dem sogenannten „Bürgergeld“ einen Kommentar gewidmet. Jetzt ist es soweit: Die Koalition will es zum Gesetz erheben. Das ist nichts anderes als der Versuch, insbesondere der Sozialdemokraten, sich von der Agenda 2010 ihres ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zu distanzieren.

Konkret geht es beispielsweise darum, Menschen ohne Beschäftigung, die öffentliche Unterstützung beantragen, nicht mehr mit inquisitorischen Fragen zu belasten. In den ersten sechs Monaten soll es zudem keine Sanktionen mehr geben, wenn Leistungsbezieher mit dem Jobcenter nicht kooperieren. In den ersten zwei Jahren gelten darüber hinaus Karenzzeiten für Wohnung und Vermögen. Das Bürgergeld geht damit nur bedingt in die richtige Richtung. Denn es sollte immer das Prinzip der Subsidiarität gelten. Hilfe vom Staat, also des Steuerzahlers, sollte es nur dann geben, wenn man sich selbst nicht helfen kann – aber auch nur dann. Wie sollte man es gegenüber den arbeitenden oder arbeitswilligen Bürgern sonst vertreten, dass jemand durch sie finanzierte Unterstützung erhält, die eigentlich ausreichend Vermögen haben oder die sich der Vermittlung durch die Arbeitsagentur verweigern.

Nun hat der Bundesrechnungshof sich mit dem neuen Weg der Ampel-Koalition befasst und kommt zu den gleichen, kritischen Ergebnissen:

  • „Vermögende Antragstellende können mit der beabsichtigten Neuregelung für die Dauer der ersten beiden Jahre des Leistungsbezugs (Karenzzeit) Leistungen nach dem SGB II erhalten. […] Aus Sicht des Bundesrechnungshofes steht die Regelung (Subsidiaritätsprinzip), dass vermögende Personen, die ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln bestreiten könnten, für bis zu zwei Jahre zu Leistungsbeziehenden werden, damit nicht im Einklang.“
  • „Nach § 12 Absatz 4 Satz 3 SGB II-E soll die Erklärung der antragstellenden Person genügen, kein erhebliches Vermögen zu besitzen. Damit bliebe die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „erhebliches Vermögen“ den Antragstellenden überlassen.“
  • „So könnte beispielsweise ein Ehepaar mit zwei Kindern trotz 150 000 Euro Spar- und Barvermögens, weiterem Vermögen, das der Altersvorsorge dient, zwei Kraftfahrzeugen und selbstgenutzten Wohneigentums (jeder Größe) Bürgergeld erhalten.“
  • „Innerhalb (der ersten zwei Jahre) werden die Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, unabhängig davon, ob sie angemessen sind. Die Obliegenheit der Leistungsbeziehenden, unangemessen hohe Aufwendungen innerhalb von sechs Monaten zu senken, soll erst nach Ablauf der Karenzzeit greifen.“

So viel zu einer unabhängigen Bewertung. Was das alles kostet? Der Entwurf des Bürgergeld-Gesetzes sieht umfassende und grundlegende Änderungen vor. Allein im Jahr 2023 sollen dadurch Mehrausgaben von rund 4,8 Mrd. Euro entstehen, davon 4,2 Mrd. Euro für den Bund.

Sind alle, die Bedenken gegen diese Regelungen geltend machen, unsolidarisch und kalt? Natürlich nicht. Fördern und Fordern gehören zusammen. Wir haben heute und in den kommenden Jahren einen Arbeitsmarkt, in dem eine längere Arbeitslosigkeit vorwiegend da wahrscheinlich ist, wo – aus welchen Gründen auch immer – erheblicher Schulungs- und Stützungsbedarf besteht. Dafür aber kann es keine zwei Jahre Karenzzeit geben. Die Arbeitsagenturen und die kommunalen Behörden haben im Interesse der Allgemeinheit eine Verpflichtung, Anstrengungen zu verlangen. Wenn das gefahrlos ignoriert werden kann, wird ihr Eifer schnell erlahmen.

Die Unterstützung, derjenigen, die auf die Hilfe tatsächlich angewiesen sind, ist eine Verpflichtung der Gemeinschaft. Sie steht nicht in Frage. Im Gegenteil, gerade angesichts der aktuellen Entwicklungen sind substanzielle Erhöhungen der Zahlungen gerechtfertigt. Aber gerade auch deshalb ist das Prinzip der Angemessenheit und der Fairness nur gewahrt, wenn das Fordern nicht gegenüber dem Fördern in den Hintergrund tritt.

Der Staat ist eben Treuhänder der Steuergelder Der Löwenanteil kommt von Bürgerinnen und Bürgern, die 46 Wochen im Jahr jeweils ungefähr 40 Stunden arbeiten und so auf eigene Wünsche wegen höherer Abgaben verzichten müssen. Sie können erwarten, dass der Staat jeden Cent bei ihnen belässt, wenn andere ihn nicht ganz unbedingt brauchen. Außerdem ist der Staat laut Bundeshaushaltsordnung zu „Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit“ verpflichtet. Er darf also nur sinnvoll und unter sorgfältiger Abwägung des Für und Wider umverteilen. Wenn das nicht mehr gewährleistet ist, entsteht in einer Erwerbsgesellschaft Frustration und Verweigerung.

Bei diesem leider auch von der FDP tolerierten Fehler geht es natürlich auch um falsche Ausgaben in Höhe von mehr als vier Milliarden Euro. Mehr noch aber geht es darum, dass die Mehrheit unseres Parlaments für eine vermeintlich populäre Regelung den Begriff der Solidarität vergisst. Dieser Schaden wiegt schwer.

Übrigens: Wegen Haushaltsnot reduziert der Bundestag im kommenden Haushalt die Unterstützung für die Sprachförderung ausländischer Schüler. Das hat mit Fördern nichts zu tun.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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