Morgen, am 15. April 2023, ist ein historischer Tag für die deutsche Wirtschaft. Die letzten drei Kernkraftwerke auf deutschem Boden stellen ihren Betrieb ein. Aus Gründen der Sicherheit gibt es dafür keine Notwendigkeit. „Diese Anlagen zählen zu den sichersten und technisch besten Kraftwerken, die es weltweit gibt. Sie waren und sind in einem exzellenten Zustand.“ Das sagte der Chef des TÜV-Verbands erst vor etwas mehr als einem halben Jahr. Wirtschaftlich macht es ebenfalls keinen Sinn, denn die abgeschriebenen Kraftwerke produzieren preiswert Strom, wie wir in der Krise des letzten Jahres eindrucksvoll sehen konnten. Umweltpolitisch ist die Sache eher ein schlechter Witz. Mitten in der Klimadebatte fahren wir alte Kohlekraftwerke und alte Gaskraftwerke wieder an, um einen Blackout zu vermeiden, sonst haben wir ja nichts.

Stimmung in Deutschland führt zu Sonderweg

Die Frage, wie es so weit kommen konnte, ist ohne Betrachtung der politischen Stimmung in Deutschland nicht zu beantworten. Noch im August 2010 sprach sich Bundeskanzlerin Angela Merkel unter Berufung auf Gutachten über die künftige Energieversorgung dafür aus, die Laufzeiten der Atomkraftwerke um zehn bis 15 Jahre zu verlängern. Dann kam Fukushima. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war in Deutschland, ganz im Gegensatz zu zahlreichen anderen Ländern, eine politische Mehrheit für die weitere Nutzung der Kernenergie in keiner demokratischen Partei mehr vorhanden. Der deutsche Sonderweg begann, und es ist aktuell unrealistisch, ihn umzukehren.

Auch wenn viele Klimaaktivisten es nicht wahrhaben wollen, es ist ein deutscher Sonderweg, der nur von wenigen geteilt wird. Großbritannien baut und plant neue Kernkraftwerke, Finnland hat in diesen Tagen ein neues Kraftwerk in Betrieb genommen und plant weitere. Frankreich hat 14 neue Kraftwerke als Ziel, die Niederlande planen zwei neue Standorte. Belgien wollte schnell aussteigen und hat die Laufzeit jetzt doch bis 2035 verlängert. Diese Entscheidungen werden noch wichtig für Deutschlands wirtschaftliche Zukunft werden.

Die Risiken des Atommülls kann man meistern

Doch bevor ich dazu komme, noch ein Einschub. Die Risiken des atomaren Abfalls werden ja gerade in Deutschland immer in den Mittelpunkt der Ablehnungsgründe gestellt, sicher auch, weil an der aktuellen Betriebssicherheit Zweifel nur mit phantasiehaft extremen Annahmen begründet werden können. Der Umgang mit den Abfällen ist ein ernstzunehmendes Problem. Aber andere Nationen gehen damit ebenfalls verantwortungsvoll um. Erste Endlagerstätten sind sehr konkret auf dem Weg. Finnland mit dem Projekt Onkalo ist im Bau weit fortgeschritten, Schweden wird folgen, Frankreich hat Entscheidungen schon getroffen, und auch unser Nachbar, die Schweiz, hat sich entschieden. In Deutschland wollen wir uns noch zwanzig Jahre Zeit lassen. Vielleicht ist das sogar gut. Die Lagerung in den Castor-Behältern ist für viele Jahrzehnte unproblematisch und sicher. Nach meiner Einschätzung werden unsere Kinder unseren Abfall als neuen Rohstoff nutzen und nur einen Bruchteil vergraben müssen. Der Begriff, den wir alle in den kommenden Jahren sehr oft hören und lesen werden, heißt „Transmutation“. In den alten Brennstäben steckt noch sehr viel Energie, die durch komplizierte Prozesse nutzbar gemacht werden kann. Den Atommüll entschärfen und daraus gleichzeitig Energie gewinnen – das ließe sich in reaktorbetriebenen Systemen umsetzen, etwa in Leistungsreaktoren mit schnellen Neutronen. Das EU-Forschungsprojekt FAIRFUELS ist schon mit einer sehr ähnlichen Technologie auf dem Weg. Bill Gates‘ Firma TerraPower will gemeinsam mit GE Hitachi Nuclear Energy schon bald einen neuen Reaktortyp bauen, der abgereichertes Uran, also genau diese alten Brennstäbe als Rohstoff für neue Energie verwendet.

Was aber wird aus Deutschland? Wir stehen vor höchst zweifelhaften Ausbauplänen erneuerbarer Energien. Alle Prinzipien der erfolgreichen Sozialen Marktwirtschaft werden ignoriert. Die Regierung träumt von unrealistischen Annahmen und vom Sprung in eine neue Welt, anstatt Schritt für Schritt zu gehen. Der Widerstand der Bevölkerung gegen zu schnell wachsende Belastungen wird beim Thema Gebäudeheizung erstmals mächtig und sozial verständlich. Gerade hat die DIHK festgestellt, dass seit 20 Jahren nicht so viele Unternehmen aus Kostengründen Deutschland verlassen, wie gerade jetzt.  Schlimmer noch, unsere ganze Energieversorgungssicherheit – selbst zu hohen Preisen – hängt an den alten Dreckschleudern des letzten Jahrhunderts.

Wir brauchen unsere Nachbarn in einem gemeinsamen Strommarkt

Wo sind denn eigentlich noch Lösungen? Gibt es überhaupt Hoffnung, dass das Prinzip „Wohlstand für Alle“ zurückkehrt? Die Antwort könnte lauten: „Im Prinzip: ja.“ Die gewaltigen technischen Veränderungen zu Gunsten einer klimagerechten Lebensweise im gewohnten Wohlstand sind ein Zukunftsmarkt. Wir können daraus eine starke Marktstellung mit guten Erträgen erarbeiten. Das wird nicht bis 2035 klappen, aber mit etwas mehr Vernunft und Gelassenheit und dem Respekt vor dem Markt könnten attraktive Lösungen entstehen. Die Strom- und Energielücke, in die Deutschland auch wegen der morgigen Abschaltung der Kernkraftwerke mittelfristig unweigerlich geraten wird, kann Europa lösen. Unsere Nachbarn arbeiten behutsamer an der Energiewende. Sie konzentrieren sich auf CO2-Reduzierung und nutzen im Übergang der kommenden Jahrzehnte auch die Kernkraft. Sie werden uns teilweise versorgen müssen und das auch können. Voraussetzung ist wiederum der Markt. Wir brauchen einen freien europäischen Strommarkt, Gas und Strom müssen grenzübergreifend fließen, ohne ideologische deutsche Bevormundung und die Aufteilung in „guten und bösen Strom“. Für Ideologie und Arroganz ist da kein Platz. Das ungarische Verbot von Gasexporten im letzten Winter oder der Versuch, vorrangigen Zugang zu einheimischen Speichern zu erhalten, sind erste Anzeichen eines gefährlichen Energieprotektionismus. Gerade für Deutschland ist essenziell, dass in keinem EU-Land die öffentliche Hand den Export von Energie in andere Mitgliedsstaaten erschweren darf.

Die Chancen, mit dem deutschen Sonderweg nicht die Zukunft zu verlieren, liegen für die kommenden Jahrzehnte in einem gemeinsamen Europa. Es ist ein Privileg, eine solche Chance zu haben. Wir sollten sie sorgsam pflegen und ausbauen, sonst wird nicht nur der Strom knapp, sondern auch der Wohlstand.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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