In wenigen Tagen beschließt der Deutsche Bundestag unter Aussetzung des bisherigen Mindestlohngesetzes die politisch motivierte Anhebung des Mindestlohns, der ab Oktober diesen Jahres 12 Euro betragen soll. Für Ludwig Erhard wäre das tabu gewesen. Auf dem Jahreskongress der Steuerberater am 8. Mai plädierte Finanzminister Christian Lindner für eine „ordoliberale Angebotspolitik“ als angemessene Reaktion auf die aktuelle Krise. Das hätte Ludwig Erhard unterstützt.

Leider macht diese Widersprüchlichkeit der Signale große Probleme für alle Akteure. Ein höherer Mindestlohn ist selbstverständlich populär. Er schafft zunächst einmal einer großen Millionenzahl von Arbeitnehmern ein höheres Bruttoeinkommen, da ist auch die Opposition sehr vorsichtig. Ordnungspolitisch betrachtet wäre die Entscheidung des Bundestags ein Fehler. Schon die Einführung des Mindestlohns an sich verletzt die Regeln des Marktes. In Zeiten eines immer knapper werdenden Arbeitsmarktes und angesichts der inflationsgetriebenen allgemeinen Lohnentwicklung wären gerade die unteren Löhne ohnehin gestiegen. Die jetzige politische Beschlussfassung setzt den gesetzlichen Prozess der Festlegung des Mindestlohns durch einen Ausschuss der Tarifvertragsparteien willkürlich aus und schafft endgültig einen „Staatslohn“.

Das einzig wirklich bewährte Mittel zur Lohngestaltung sind Tarifverträge. Die werden durch die Festlegung eines Mindestlohns für Arbeitnehmer und Arbeitgeber aber weniger attraktiv. Gleichzeitig ist der politische Mindestlohn jetzt höher als in einigen Tarifverträgen, was zu einem staatlich initiierten allgemeinen Lohnanstieg führt. Wiederum nicht unpopulär aber wiederum falsch.

Folgt man der Idee des Bundesfinanzministers, hätte man sich aber als Regierung mit den allgemeinen Rahmenbedingungen befassen müssen. Da ist vor allem die Steuergesetzgebung. Wenn man im Auge behält, dass die politische Mindestlohnerhöhung einen Zuwachs von 15 Prozent (im Vergleich zum bisherigen Mindestlohn von 10,45 Euro/ Stunde) erbringt, aber gleichzeitig ein signifikanter Anteil in die Besteuerung fließen wird, zeigt das die Fehler im System. Der Finanzminister will Vorschläge zur Linderung der Progressionssteigerungen bei der Einkommenssteuer zudem erst Ende des Jahres vorlegen und nimmt damit in Kauf, dass die ohnehin schwierigen Tarifverhandlungen ohne dieses wichtige Signal noch gefährlich höhere Abschlüsse schaffen können. Von einer Anpassung der Unternehmenssteuern ist kaum die Rede.

„Ordoliberale Angebotspolitik“ ist anders. Sie beruht auf dem Vertrauen, dass sich die am wirtschaftlichen Leben Beteiligten bei klarer Kenntnis von berechenbaren staatlichen Rahmenbedingungen so verhalten, dass die Summe ihres Handels dem Gemeinwohl nutzt. Freie Unternehmer, verantwortungsbewusste Gewerkschaftsführer, viele leistungswillige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sehr qualifizierte Forscher; das alles gibt es bei uns. Also muss es um Verlässlichkeit und klare Regeln gehen.

Die gesamte Steuerpolitik ist zumindest unklar. Wenn die Regierung vor einigen Wochen „Superabschreibungen“ in den Raum stellt, sie dann aber auf sich warten lassen, entsteht eben kein Aufbruch, sondern allgemeines Abwarten. Wenn die Bundesregierung die bisher geltende „rote Linie“ von höchstens 40% Sozialabgaben nicht mehr aufrechterhält, engt es den Verhandlungsspielraum der Tarifparteien für moderate Ergebnisse ein. Über eine höhere Staatsverschuldung durch die Umgehung der Schuldenbremse ist dabei noch gar nicht gesprochen.

Die Signale einer Angebotspolitik fehlen. Die Signale kleinteiliger und eher nachfrageorientierter Einzelmaßnahmen sind neben dem Thema Mindestlohn lang. 9-Euro-Tickets sind zwar auch populär, aber eben auch eine Fehlsteuerung.

Die Ludwig-Erhard-Stiftung würde ganz im Sinne ihres Gründers aus vollem Herzen den Finanzminister unterstützen, wenn ordoliberale Politik auf die Tagesordnung kommt. Aber sie ist ein Prinzip und kein Beiwerk. Detailsteuerung und Ordnungspolitik gleichzeitig ist wie die parallele Bedingung von Bremse und Gas. Es macht den Antrieb kaputt.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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