„Die Wahrheit ist immer konkret.“ – Dies ist ein Wort Lenins, gleichwohl passt es als Motto für die kommenden Wochen in Deutschland. Regierungsprogramme sollten den Anspruch haben, jenseits von schwammigen Wahlprogrammen konkrete Antworten auf die drängenden Herausforderungen zu geben. Gerade für diejenigen, die jetzt ihre wirtschaftlichen Entscheidungen für die kommenden Jahre treffen müssen, ist Präzision und Verlässlichkeit entscheidend. Da ist es in dieser Beziehung egal, wer mit wem sondiert. In den letzten Jahren jedenfalls ist niemand mit Präzision aus Berlin verwöhnt worden.

Wir brauchen eine Antwort auf die Herausforderungen im Bereich der Energieversorgung. Zum Ende dieses Jahres werden die Kernkraftwerke Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen abgeschaltet. Ende 2022 folgen Emsland, Isar und Neckarwestheim. Das sind sechs Mal rund 1400 Megawatt installierte Leistung, und immerhin haben diese Kraftwerke im ersten Quartal dieses Jahres 12,5 Prozent zur Netto-Stromerzeugung in Deutschland beigetragen. Die Risiken von größeren Versorgungsbrüchen, Notabschaltungen in der Industrie und im Extremfall einem unkontrollierten Blackout steigen. Kohlekraftwerke sind im Augenblick noch der Puffer. Sie sollen offenbar schon alle vor 2038 vom Netz gegangen sein. Versorgungstrassen für Windstrom von Nord nach Süd sind im Wesentlichen noch nicht einmal im Bau. Die Frage lautet also: Wie kann die Regierung eine stabile Stromversorgung jenseits von solaren Hoffnungswerten garantieren?

„Ich gehöre nun einmal nicht zu den Politikern, die glau­ben, das sei die rechte Art, sich den Beifall dadurch zu verdienen, dass man immer nur jedem nach dem Mau­le redet. Nein, das ist meiner Ansicht nach eine ganz schlechte Politik.“ (Ludwig Erhard, 1964)

Wir brauchen eine Antwort auf die Fragen zum Thema Staatsschulden in der Europäischen Union. Erst hatte die EZB an der Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen durch Anleihekäufe und Negativzinsen die hohe Schuldenaufnahme in den südlichen Ländern wirtschaftlich möglich gemacht. Jetzt bekommen diese Länder aus dem neuen EU-Schuldentopf so viel Geld, dass sie für einige Jahre ihre Schulden verringern können und erwarten, dass dieser Transfer keine einmalige Leistung bleibt. Die entsprechenden Grundlagen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes müssen im ersten Quartal des kommenden Jahres im Rat der EU von den Staats- und Regierungschefs neu verhandelt und beschlossen werden. Die Frage lautet, ob Deutschland einem dauerhaften und schuldenfinanzierten Transfer in die Mittelmeerländer zustimmen wird und welche Folgen Deutschland die Inflation betreffend in Kauf zu nehmen bereit ist.

Wir brauchen eine Antwort auf die Fragen nach einer verlässlichen Altersversorgung. Kommissionen gab es genug. Die letzte Regierungskommission hat ihre Arbeit vor einem Jahr abgeschlossen und konnte sich nicht zu Empfehlungen durchringen. Bisher scheint es, als gäbe es für die naheliegende Möglichkeit einer Verlängerung der Regelarbeitszeit keine Mehrheit im Bundestag. Dann bleibt nur eine Erhöhung der Beiträge, die zu Sozialabgaben deutlich oberhalb der Marke von 40 Prozent führt oder zu einer noch stärkeren Finanzierung der Renten aus dem Steuertopf. Und diese Frage stellt sich bereits ab 2025 und nicht erst in ferner Zukunft. Die Hoffnung auf ein höheres Beitragsaufkommen – ausgelöst etwa durch einen höheren Mindestlohn – ist durch konkrete Berechnungen längst als Trugschluss entlarvt und muss begraben werden. Darüber hinaus geht es um die Rente für die heute noch jüngeren Arbeitnehmer: Können sie die Vorteile des Kapitalmarktes zum Aufbau einer Altersversorgung nutzen, oder bleibt das den Vermögenden vorbehalten? Ohne klare Antworten bleibt Arbeitnehmern, Steuerzahlern, Arbeitgebern und Rentnern die so dringend notwendige Perspektive versperrt.

Wir brauchen auch Antworten auf die Problematik in der strategischen Außen- und Außenwirtschaftspolitik. Wo stehen wir im Konflikt um den fairen Wettbewerb mit China? Kann Deutschland mit der Abhängigkeit in den Lieferketten aus China leben? Wie abhängig dürfen deutsche Unternehmen vom Umsatz in China sein? Die Frage stellt sich angesichts der Tatsache, dass ja in der Autoindustrie, die 40 Prozent ihres Umsatzes in China tätigt, schon eine beachtliche Erpressungsposition aufgebaut ist. Können wir es uns leisten, in Handelskonflikte mit den USA und China gleichzeitig zu geraten? Sind wir zu einer schnelleren Vereinheitlichung des Marktes in Europa von Regelungen zum Datenschutz bis zu einer Bankenunion bereit, um ein eigenständiges Gegengewicht zu schaffen? Zu diesen Themen braucht Deutschland eine Grundsatzentscheidung, und das heißt eben, wie auf den neuen und aggressiven Wettbewerb der Systeme geantwortet werden kann. Und es eilt.

Wer also glaubt, mit der Entscheidung, wer mit wem in Sondierungsgespräche über mögliche Regierungskoalitionen geht, seien die Richtungsentscheidungen für Deutschland gefällt, der irrt. Viele Entscheidungen sind offen. Und wie eingangs bereits gesagt, so ist die Wahrheit immer konkret.


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