Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts in der vergangenen Woche wird Geschichte schreiben und wird das Land herausfordern. Wohl kaum jemand hatte mit dieser Entscheidung gerechnet, weder in der Politik noch in der Szene der Juristen. Der Beschluss hat das Potenzial, das Land zu verändern. Jedoch bleibt die Qualität dieser Veränderung offen und wird Gegenstand der politischen Mehrheitsbildung in diesem Jahr werden.

Der Beschluss an sich ist schwer verdaulich. Aber wie die gerichtliche Erfindung der „informationellen Selbstbestimmung“ im Datenschutz, so ist auch hier Recht im Verfassungsrang gesprochen und kein Lamento verändert daran etwas.

Was ist geschehen? Das Bundesverfassungsgericht hat zum einen den Artikel 20a des Grundgesetzes nicht, wie viele Politiker es wohl gedacht hatten, als Programmsatz interpretiert, sondern ihn mit jeder Silbe als individuelle Rechte begründenden Verfassungsbefehl ausgelegt. Damit sind die Möglichkeiten des Ermessens durch den Gesetzgeber massiv beschränkt. Das Gericht hat sich zum anderen detaillierte Klimaberechnungen zu eigen gemacht. Grundlage sind die Daten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) bei den Vereinten Nationen. Diese Zahlen sind – wie das Gericht einräumt – oft vage und auch umstritten. Dennoch hat auch Deutschland internationale Verträge auf diese Daten gegründet. Allerdings darf der Mut des Gerichts, in einem so weitreichenden Beschluss die existenziell noch verkraftbare Menge CO2 mit exakt 6,7 Gigatonnen anzunehmen, als kühn betrachtet werden. Aber sie ist nun einmal geltendes Recht und führt zu massiven kurzfristigen Veränderungen der Politik.

Wir sehen jetzt einen politischen Überbietungswettbewerb um die Erhöhung des Reduktionsziels für CO2 in Deutschland bis 2030. Sollen es 55 Prozent, 60 Prozent oder gar 65 Prozent sein? In der Tat, eine beachtliche Verschärfung ist jetzt angeordnet, aber was ist die Konsequenz? Die einen wollen jetzt möglichst viele Verbote im Verkehr, bei der Wärme, möglicherweise sogar bei der Industrie und ganz bestimmt bei den Kraftwerken. Da können sich viele staatliche Wirtschaftslenker austoben. Aber der Weg ist falsch!

Gerade in dieser für Wachstum, Arbeitsplätze und Wohlstand kritischen Situation ist die Marktwirtschaft gefragt. Schneller als bisher für machbar gehalten, müssen neue Lösungen her. Keine Bürokratie kann diese Lösungen planen, denn sie übersteigen alles, was bisher als realistisch eingeplant werden konnte. Die durch das Gericht provozierte dramatische Beschleunigung des Veränderungsprozesses erfordert Härte im Grundsatz und Zurückhaltung bei allen Details. Nur so kann man mit Kreativität das fast Unmögliche versuchen.

„Revolutionär war schließlich auch der Mut, mit der Währungsreform nicht nur die Bewirtschaftung aufzuheben, sondern auch der Funktion der freien Preisbildung wieder Raum zu geben und damit das Wettbewerbsprinzip endlich wieder zum Tragen zu bringen.“ (Ludwig Erhard, 1961)

Der CO2-Preis ist der einzige brauchbare Signalgeber. Er muss sehr schnell steigen. Für eine Übergangszeit brauchen wir die gerade gestartete separate CO2-Bepreisung in den Sektoren Verkehr und Gebäude. Sie wird in kurzer Zeit über 80 Euro und sehr wenig später über 120 Euro liegen müssen. Am Ende der Entwicklung muss ein integriertes Emissionshandelssystem stehen, das alle Sektoren erfasst und damit einen einheitlichen CO2-Preis etabliert. Da muss Europa mit ins Boot. Je früher man in diese Richtung geht, desto besser. Diese Preise machen regenerative Energien wettbewerbsfähig; das Geld, das sie einspielen, wird für soziale Ausgleichsmaßnahmen dringend gebraucht. Das Erneuere-Energien-Gesetz (EEG) muss weg, der Strompreis muss deutlich sinken und alle weiteren dirigistischen Ideen müssen zurückgedrängt werden. – Diese Vorschläge sind im Übrigen nicht Ausdruck spontaner Radikalität, sondern sind stark an das Sondergutachten des Sachverständigenrates vom Juli 2019 angelehnt („Aufbruch zu einer neuen Klimapolitik“).

Die Situation rechtfertigt einen vorsichtigen Vergleich mit den Herausforderungen, vor denen Ludwig Erhard im Jahr 1948 stand. Die unmittelbaren Folgen der spontanen Erhöhung des CO2-Preises werden Heulen und Zähneklappern auslösen. Trotz unabdingbarem sozialen Ausgleich werden Arbeitsplätze wegfallen und noch mehr Unternehmen werden aufgeben müssen. Aber: Je schneller und härter das Signal kommt, desto schneller entwickeln sich in der Krise neue Ideen. Neue Produkte werden den neuen Anforderungen entsprechen. Neue Unternehmen und Arbeitsplätze werden entstehen, und mit etwas Glück wird die Welt auch wiederum zum guten Kunden. Der Wiederaufstieg wird ein halbes Jahrzehnt dauern, aber er kann stark werden. Bei bürokratischen Verbotsstrategien hingegen wird der Abstieg länger dauern – und am Schluss haben wir nicht genug neue Ideen und die Welt hängt uns ab.

Mitten in einem Wahlkampf werden die Parteien in eine Situation gestürzt, die Mut und klare Initiativen verlangt. Man wird Unterschiede erkennen: sowohl im Grad der Staatsgläubigkeit als auch im Grad des Mutes. Alle, die da jetzt entscheiden müssen, sollten Biografie und Reden von Ludwig Erhard in die Hand nehmen. Man kann an der Richtigkeit der Annahmen des obersten Gerichts Zweifel haben, aber das hilft nichts. Die Basis für die gefährlich scharfe Wende ist nicht mehr änderbar, und es muss alles geschehen, um schnell auf Kurs zu kommen. Ludwig Erhard kannte das.


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