Man nehme einen Jubiläumstag, in diesem Fall den 20. September 1949, der Tag, an dem die erste Bundesregierung vereidigt wurde, suche sich einen der Beteiligten heraus und klopfe seine Lebensgeschichte ab, vorzugsweise auf die Jahre 1930 bis 1945 – und schon ist sie fertig, die vermeintliche Sensation. Am vergangenen Freitag, den 20. September 2019, war es an der taz in ihrer Online-Ausgabe, den Dauerbrenner „Ludwig Erhard und der Nationalsozialismus“ hervorzuholen. Ein Buchauszug von Ulrike Herrmann (Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen, Frankfurt am Main 2019) soll dem erstaunten Publikum vor Augen führen, welch‘ eklatanten Fehlinformationen es seit Ende des Zweiten Weltkriegs aufgesessen ist.

Wie in zahlreichen Veröffentlichungen zuvor wird auch diesmal von der „historisch bestens dokumentierten NS-Vergangenheit“ Erhards berichtet. Nur konnte noch nicht jeder in den Genuss der brisanten Informationen kommen, weil sie „bis heute tatkräftig verschwiegen“ werden. Ob diese verschwörungstheoretische Anmutung zielführend ist, sei dahingestellt. Wie genau sich die Leserin und der Leser dieses tatkräftige Verschweigen vorzustellen haben? Im taz-Artikel erfährt man es nicht.

Für fehlende oder lückenhafte Belege findet sich allerdings in solchen Fällen schnell Ersatz. Unterstellungen beispielsweise. Erhard wird flugs zum Handlungsreisenden in Sachen Nationalsozialismus. Dass Erhard vonseiten des Instituts für Wirtschaftsbeobachtung an der Handelshochschule in Nürnberg ausdrücklich beauftragt war, neue, mitfinanzierende Bereiche zu erschließen, das scheint eher nebensächlich. Ebenso, dass im Deutschen Reich alles gleichgeschaltet und in NS-Strukturen eingegliedert war. Damit dürfte die Wahl von Auftraggebern außerhalb dieser Strukturen unmöglich gewesen sein.

Die Habilitationsschrift, die keine war

Wenn Unterstellungen nicht weiterhelfen, kommt man vielleicht mit Übertreibungen weiter. Und so treibt die wissenschaftliche Reputation Erhards manchen zu besonderen Rechercheleistungen. Schon wieder ein Treffer: Erhard ist mit einer Habilitation gescheitert! Was das nun genau über jemanden aussagt, der zunächst von denselben Personen ausdrücklich gelobt und für die wissenschaftliche Hochschullaufbahn empfohlen wurde, die ihm einige Zeit später aus politischen Gründen diese Laufbahn verbauten (vgl. Clemens Wachter, Ludwig Erhard als Wissenschaftler und Dozent, Nürnberg 2013), darüber ließe sich trefflich streiten. Unbestreitbar dagegen ist, dass ein Text im Archiv der Stiftung ohne weitere Hinweise durch eine Erhard-Biografie, nämlich Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, zur „Habilitation“ wurde. Ein Textfragment zu einer Habilitation zu stilisieren – Chapeau!

Sollten Unterstellungen und Übertreibungen nicht ausreichen, könnten auch Interpretationen die gewünschten Wirkungen hervorrufen. Dem Text von Frau Herrmann zufolge war für Erhard vieles in den NS-Jahren „fraglos klar“, und er hatte jederzeit den vollen Durch- und Überblick, gleichgültig, ob in den oberen Etagen des NS-Regimes oder in den besetzten Ostgebieten: „daran besteht kein Zweifel.“ Andererseits liest man aber auch: „Ohlendorfs hoher SS-Rang war allgemein bekannt, aber Erhard dürfte nicht gewusst haben, dass er sich mit einem Massenmörder traf“ – das klingt widersprüchlich.

Und so reiht sich Behauptung an Spekulation, irgendetwas wird beim Publikum schon verfangen. Nichts wird durch belastbare Belege erhärtet. Stattdessen werden Erkenntnisse aus Publikationen referiert, die ihrerseits um die Mitte der 1990er Jahre erschienen sind und damals mit ähnlichem Ziel – „Erhard, der Nazi“ – historische Sensationen zu verkünden hofften. Vergeblich. Wie auch immer: Das angeblich Neue gibt es einmal mehr, weil Informationen weggelassen, nicht recherchiert oder in irreführende Zusammenhänge gestellt werden.

Andreas Schirmer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ludwig-Erhard-Stiftung.

Weiterführende Lesehinweise:
https://www.ludwig-erhard.de/zu-juengsten-falschmeldungen-die-ludwig-erhard-verunglimpfen
https://www.ludwig-erhard.de/unser-wirtschaftswunder-die-wahre-geschichte-eine-filmkritik/
Horst Friedrich Wünsche, Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft, Wissenschaftliche Grundlagen und politische Fehldeutungen, Reinbek/München 2015.

Dokumentation:
Biographische Stationen von Ludwig Erhard zwischen 1933 – 1945

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