In diesen Tagen sägen viele wieder an der Schuldenbremse des Grundgesetzes. „Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“, so einfach steht es in Artikel 109 Absatz 3 unseres Grundgesetzes. Für die Bundesländer gilt das absolut, für den Bundeshaushalt mit wenigen Ausnahmen. Ich war selbst intensiv an den Verhandlungen der Kommission aus Bund und Ländern zur Reform des Grundgesetzes beteiligt. Ich kenne daher das Ringen und die Bedenken. Es ist eine große historische Leistung, im Konsens der großen Parteien diese Selbstbeschränkung in das Grundgesetz aufzunehmen.

Das deutsche Verständnis von Solidität wird als wirtschaftspolitischer Grundsatz ja keineswegs von allen akzeptiert. Das zeigen die Debatten unter den Staaten der Euro-Zone. Die Staatsverschuldung Deutschlands konnte nach großen Herausforderungen, wie es zum Beispiel die deutsche Wiedervereinigung war, immer wieder auf ein volkswirtschaftlich wohl vertretbares Maß gemäß der Maastricht-Kriterien von 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zurückgeführt werden. Das gelang Gerhard Stoltenberg und so konnte die Einheit Deutschlands solide finanziert werden. Auf dieser Grundlage konnte Deutschland z. B. auch die globale Finanzkrise 2008 vergleichsweise gut überstehen.

Viele Ökonomen, nehmen wir als Beispiel Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart, haben sich im Jahr 2013 Gedanken über den Zusammenhang von Staatsschulden und Wirtschaftswachstum gemacht. Nach einem Jahrzehnt der Diskussion wird man konstatieren müssen, dass eine Staatsverschuldung von über 90 Prozent vom BIP nicht automatisch zum Ende des Wachstums führt, wie Rogoff und Reinhart es vorausgesagt hatten. Andererseits wird niemand bestreiten, dass Geld und Kredite endlich sind und der Staat als Schuldner vielen privaten Investoren die Finanzierungsmöglichkeiten erschweren und damit das Wachstum schädigen kann.

Nach meiner Erinnerung war jedoch mehr als die abstrakte volkswirtschaftliche Verschuldungstheorie für die beteiligten Politiker die folgende Frage von Bedeutung: Wie bekomme ich die Lawine von Ansprüchen, die zur einer Lawine der Verschuldung führt, in modernen Wohlstandsdemokratien in den Griff? Schließlich weiß die politische Wissenschaft schon lange, dass die Erhöhung der Staatsverschuldung am Ende einer Wahlperiode die Wiederwahlchancen der Regierung erhöht.

Die Sorge, dass im Wettstreit zwischen Rationalität und Egoismus immer die Verschiebung der Lasten der nächsten Generation geht – das ist die Wirkung von Schulden – war über alle politischen Grenzen hinweg erkennbar. Daher kommen die strikten Formulierungen, der sehr begrenzte Ermessensspielraum für den Gesetzgeber und die Suche nach einer prinzipiellen Regelung, die den Druck der Bedürfnisse und Erfordernisse in ein systemisches Verhältnis zu Arbeitsfähigkeit, Arbeitswillen und Arbeitsergebnis der jeweils handelnden Generation setzt.

In Krisenzeiten darf der Staat sich selbstverständlich nicht zurückziehen. Aber es muss so schnell wie möglich wieder das Primat marktwirtschaftlicher Regelungen und die Autorität der Konsumenten gelten. Genau darüber reden wir in Deutschland zurzeit. Die Schuldengrenze gehört ausgesetzt in Ausnahmesituationen wie der Pandemie. Jetzt ist es aber Zeit, sich wieder strikt an sie zu halten. Wenn es gelänge, immer neue „Ausreden“ zu finden, ein weiteres Jahr über die wirtschaftlichen Verhältnisse zu leben, würde das für Bevölkerung und Politiker nur kurzfristig die angenehmste Lösung bleiben. Vordergründig kämpft der Chor der Befürworter und Gegner „nur“ um den Bundeshaushalt 2023. Aber es geht um mehr. Die Schuldenbremse des Art.109 GG ist ein Prinzip. Es stört viele in der Verwirklichung der jeweils jüngsten Ideen und es provoziert die in den letzten Jahren wieder gesellschaftsfähig gewordene Bewegung für eine systemische Verschuldung und gegen das, was man in den USA Austerität nennt.

Aus diesem Grund ist die aktuelle Diskussion so fundamental. Natürlich wird auch mit der Schuldenbegrenzung in Deutschland (Bund und Länder) sehr unterschiedlich umgegangen. Mit dem Auftrag, am Anfang der neuen Koalition wichtige Beiträge zum Start zu bringen, hat der Bundesfinanzminister eine sehr kreative Interpretation der Verschuldensregeln gewählt und damit sogleich die verfassungsrechtliche Überprüfung herausgefordert. Wenn jedoch aus der außergewöhnlichen Belastung eine Kette von außergewöhnlichen Belastungen wird, dann sind die Belastungen ab einem bestimmten Punkt nicht mehr als außergewöhnlich anzuerkennen. Vielmehr muss der Staat sein finanzielles Gebaren in Einnahmen und Ausgaben der neuen – wenn auch unerfreulichen – Realität anpassen.

Wenn uns im privaten Leben Krisen treffen, haben wir die Möglichkeit, durch Auflösung von Ersparnissen oder Inanspruchnahme von Krediten eine Überbrückung zu schaffen. Wenn – aus welchen Gründen auch immer – die Einnahmen die gewünschte Höhe nicht bald wieder erreichen, zerrinnen das Ersparte und die Kreditwürdigkeit gleichermaßen. Der Staat kann diesen vernünftigen Zustand der rationalen Optionen durch das Recht zur Geldschöpfung außer Kraft setzen. Um genau dieses Instrument geht es dann letztlich auch bei der Staatsfinanzierung durch Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank.

Leichtes Geld durch Schulden ist eine Suchterkrankung, die besonders in modernen Demokratien ein erhebliches Risiko darstellt. Seit Jahrzehnten wird die Droge heftig konsumiert. Die Schuldenbremse führt zu Entzugserscheinungen, die zwar schmerzhaft sind, aber Fluchtwege schaffen und zu Verhaltensänderungen führen.

Daher ist es so wichtig, darauf zu achten, dass das so mühsam erarbeitete Prinzip nicht durch die konsekutive Annahme von noch so gut begründbaren Ausnahmefällen die Therapie zerstört und der Patient fröhlich wieder im Rausch ist. „Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“, dieser Grundsatz muss auch in einer sich dramatisch verändernden Welt gültig bleiben.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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