Die Europäische Zentralbank (EZB) hat in der vergangenen Woche die Leitzinsen um 0,75 Prozentpunkte erhöht. Von vielen – vielleicht auch in der EZB selbst – vor wenigen Wochen in dieser Höhe noch für unwahrscheinlich gehalten, ist es doch das erste wichtige Zeichen einer beginnenden Entschlossenheit zum Kampf gegen die auf einmal sich deutlich Richtung zweistelliger Raten beschleunigenden Inflation. Und es muss weitere Schritte geben! Es ist ein Aufwachen aus einem unguten Tiefschlaf. Noch im September 2021 sagte der Ökonom Marcel Fratzscher: „Die Diskussion um die Inflation ist eine gezielte Panikmache in Deutschland, Menschen werden unnötig verunsichert.“

Zwei Fragen drängen sich dabei auf: Zum einen, wie lautet der in den europäischen Verträgen festgelegte Auftrag der EZB und zum anderen, welche besonderen Risiken und Problematiken bestehen in den Euro-Ländern jenseits der Frage der Inflationsbekämpfung? Im Gegensatz zur amerikanischen oder auch der britischen Notenbank hat die EZB, wie zuvor die Bundesbank, vorrangig den geldpolitischen Auftrag, die Währung stabil zu halten. Das geschieht schulmäßig dadurch, dass man eine Wirtschaft, die durch ein zu knappes Angebot die Preise treibt, durch höhere Zinsen zu bremsen versucht. Wenn Kredite teurer werden, wird weniger investiert und konsumiert. Da Preise die Knappheit von Gütern und Dienstleistungen ausdrücken, gehen sie bei einer die Nachfrage dämpfenden Notenbankpolitik wieder zurück oder steigen jedenfalls nicht mehr. Das ist ein im Grunde simpler Mechanismus. Diesen Bremsweg zu weniger Nachfrage und damit auch zu einer Verbilligung des Angebots nennen wir Rezession. Die Wirtschaft wächst nicht mehr, schrumpft vielleicht kurzfristig, schwache Unternehmen verschwinden vom Markt, und neue Unternehmer ergreifen ihre Chance.

Wir sollten uns im Klaren darüber bleiben, dass die einzige Alternative zu dieser allgemeinen Steuerung durch die Zentralbank staatliche Preisregulierungen sind. In einzelnen Wirtschaftszweigen und wenn Politiker die marktwirtschaftlichen Prinzipien nicht verstehen, sehen wir das ja: Mietendeckel und Gaspreisdeckel sind hier Stichworte. Inflation stoppt man damit jedoch nach allen Erfahrungen vor allem im letzten Jahrhundert nicht, sondern man subventioniert die Schwachen und verhindert das Wachsen neuer tragfähiger Kräfte.

Für die Europäische Union stellt sich auf Grund der Besonderheiten einer Mehr-Staaten-Währung das Problem zugleich doppelt: So wollen mehrere Länder der Europäischen Währungsunion den vom Markt geforderten Zinssatz auf ihre Staatsschulden nicht als Maßstab ihrer eigenen Leistungsfähigkeit anerkennen. Die Europäische Zentralbank hat jedoch kein Recht, für einzelne Länder Zinssätze auf bestimmte Zielwerte hin zu manipulieren, die der Markt im freien Spiel nicht anerkennen würde. Das Pendant zur Rezession ist eine hohe Zinslast für Staatsschulden von Ländern, deren Ökonomie schwach ist. Das betrifft im Augenblick hauptsächlich Italien, aber das ist nur eine Momentaufnahme. Ohne die Inkaufnahme hoher Zinszahlungen auf die eigene Staatsverschuldung bleibt eine Volkswirtschaft schwach, weil die Schwachen subventioniert und die Starken am Wachstum gehindert werden.

Aus diesen beiden Entwicklungen können wir folgendes entnehmen: Die Wiederherstellung von Geldwertstabilität in Zeiten der Inflation ist ein schmerzhafter Prozess. Es kommt zu Minderungen des Wohlstandes und zwingt Staaten zu enormen Anstrengungen. Man wünscht sich verständlicherweise, dem auszuweichen; aber diesem Drang nachzugeben würde bedeuten, den Wohlstand zu schwächen, die Sparer zu enteignen und neue Chancen zu blockieren.

Es bleibt eine Aufgabe der Fiskalpolitik, also der Staatshaushalte und der Staatsausgaben, ungewollte Härten in Folge dieser Selbststeuerung der Wirtschaft abzumildern, allerdings ohne deren Wirkung zu zerstören. Dazu gehören sozialpolitische Maßnahmen wie auch Überbrückungshilfen für die Wirtschaft. Aber eben nur in einem Umfang, in dem der Staatshaushalt das verkraften kann. Das bedeutet auch, dass Staaten Rücklagen bilden müssen und nicht ständig in größere Defizite laufen können.

Eines darf dabei weder in den Nationalstaaten noch auf europäischer Ebene geschehen, nämlich aus Angst vor den kurzfristigen Folgen die bittere Medizin zu scheuen und neue Sündenfälle zu starten. Viele Mietverträge haben schon eine Inflationsklausel, in Tarifverhandlungen steht die automatische Überwälzung der Preissteigerungen in eine Lohnsteigerung schon auf der Tagesordnung, und der Bundesfinanzminister nimmt die alte Idee einer automatischen Inflationsangleichung im Steuerrecht wieder auf. Alle Maßnahmen hätten einen gemeinsamen Effekt: sie betäuben den Schmerz und machen die Rückkehr zur Stabilität langwieriger, teurer und verlustreicher. Es ist unausweichlich, dass sich die Märkte und Einkommen anpassen, denn sonst beginnt die Inflation irgendwann zu traben und schließlich zu galoppieren. In manchen Staaten wie beispielsweise Italien und Frankreich sind bereits Anzeichen erkennbar, dass die gigantischen Förderprogramme der EU als Schmerzmittel gegen Inflation und nicht als Heilmittel für Wirtschaftswachstum eingesetzt werden.

Die Sondersitzung des EZB-Rates vor einigen Wochen fand nicht etwa wegen der dramatischen Irrtümer bei der Inflationsvorhersage statt, sondern war wegen des Ansteigens der Zinsen für italienische Staatsanleihen einberufen worden. Das war ein Fehler. Er zeigt eine gewisse Anfälligkeit der EZB, sich um Themen zu kümmern, die nicht zu ihren Prioritäten gehören dürfen. Zugleich müssen sich nationale Regierungen darauf konzentrieren, in einer schwierigen Übergangsphase Bürger und Unternehmen in Not zu stützen, ohne jedoch die heilsame Wirkung des Zinses und der kurzfristigen wirtschaftlichen Abkühlung auszuschalten. Das erfordert Mut, Entschlossenheit und eine gute Kommunikation. Es ist noch Luft nach oben.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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