
60 Jahre Sachverständigenrat – klare Worte sind gefragt
Am 14. August 1963, also vor genau 60 Jahren, beschloss der Bundestag das Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR). Der SVR ist heute eine etablierte und bekannte Institution der wissenschaftlichen Politikberatung in Deutschland mit einer hervorragenden nationalen und internationalen Reputation. Die Unabhängigkeit dieses wichtigen Beratungsorgans der nationalen deutschen Politik ist durchaus etwas Besonderes. In Washington etwa baute man schon seit 1946 auf Beratung, aber unabhängig ist das Council of Economic Advisers (CEA) bis heute nicht.
Eine Idee von Ludwig Erhard – und eine schwere Geburt
Auch bei uns war es eine schwere Geburt. Erstmals schlug Ludwig Erhard 1958 – kurz nach seiner Niederlage bei der Einführung der dynamischen Rente – zusammen mit Bundesarbeitsminister Blank ein „Sachverständigengremium für Wirtschafts- und Sozialpolitik“ vor, das regelmäßig „die gegenwärtige und die zu erwartende gesamtwirtschaftliche Entwicklung beobachten und beurteilen“ sollte. Ludwig Erhard war bei dieser Initiative nicht besorgt um eine mangelnde Expertise auf Seiten der Regierung. Vielmehr galt seine Sorge der Gefahr langfristiger Fehleinschätzungen der wirtschaftlichen Verhältnisse. Die aus seiner Sicht höchst riskante Wette auf das Wachstum in Form der allein umlage-finanzierten Rente war dabei sicher der entscheidende Impuls. Aber Erhard scheiterte an der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und ganz besonders an Bundeskanzler Konrad Adenauer. Die Sorge, die Regierung könnte durch eine solche Instanz in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeengt werden, überwog.
Aber, wie schon gesagt, Erhard ging es um etwas ganz anderes. 1962 startete Ludwig Erhard mit einem Brief an Konrad Adenauer einen erneuten Vorstoß. Der langjährige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer, der im Jahr 1962 den Gesetzentwurf im Ministerium Erhard betreute, erinnert sich später so*: „Erst als sich Anfang der 60er Jahre – trotz der 1961 von Ludwig Erhard gegen Adenauer und die Mehrheit des damaligen Zentralbankrates durchgesetzten D-Mark-Aufwertung – die boomartige Entwicklung in der Bundesrepublik fortsetzte und die Lohnentwicklung immer expansivere Züge mit wachsenden Gefahren für die Preisstabilität annahm, griff Erhard im Frühjahr 1962 das Thema Bildung eines unabhängigen Sachverständigengremiums erneut auf. In einem Brief vom 17. Februar 1962 an Bundeskanzler Adenauer verwies er mit großem Nachdruck auf die gesamtwirtschaftlichen Gefahren der aktuellen Lohnentwicklung und schlug die Bildung eines unabhängigen „Sachverständigenrates vor.“
Ludwig Erhard hatte damit wieder keinen Erfolg. Aber aller guten Dinge sind drei: Als der damalige stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Werner Dollinger, und der damalige Fraktionsvorsitzende der FDP, Knut Freiherr von Kühlmann-Stumm, Erhards Entwurf als Initiativantrag in den Bundestag einbrachten, wurde dieser vom Wirtschaftsausschuss angenommen – allerdings in einer abgeänderten Fassung. Diese gab – wie die spätere Praxis ja auch gezeigt hat – dem Sachverständigenrat weit mehr Spielraum für wertende Detail-Aussagen und konkrete Handlungsvorschläge.
Öffentliches Bewusstsein für die Wirtschaft, aber keine staatliche Planung
Nur kurze Zeit später, nachdem der Rat berufen war, musste Ludwig Erhard eine weitere Abwehrschlacht führen. Mit den aufkommenden konjunkturellen Sorgen kamen die staatlichen Planungsenthusiasten wieder in die Diskussion. Gerade aus den Reihen der SPD und besonders ihres Sprechers Karl Schiller kam die Forderung nach einer „Institutionalisierung der Konjunkturpolitik durch einen ständigen Sachverständigenbeirat“. Das war wieder der so gefährliche Gedanke der staatlichen Planung der wirtschaftlichen Entwicklung.
Noch einmal Hans Tietmeyer: „Ludwig Erhard selbst stand jedoch allen Vorschlägen, die auf ein Wirtschaftsbudget oder auf eine gesamtwirtschaftliche Programmierung der Wirtschaftsentwicklung im Sinne einer Planification hinausliefen oder hinauslaufen konnten, deutlich ablehnend gegenüber. Ihn interessierte zwar sehr – besonders auch nach der Kontroverse mit Konrad Adenauer über die Gestaltung des neuen dynamischen Rentensystems – die bessere Beachtung der gesamtwirtschaftlichen und ordnungspolitischen Zusammenhänge bei der Ausgestaltung der einzelnen Politiken. Er war auch – nicht zuletzt unter dem Einfluss von Müller-Armack – offen für eine gewisse konjunkturpolitische Einflussnahme. Die Vorstellung, hierfür jährliche quantitative Wirtschaftsprogramme aufzustellen, widersprach jedoch eindeutig seinen Vorstellungen.“
Sachverständigenrat und die Ludwig-Erhard-Stiftung
Über die Jahre hat sich der Sachverständigenrat zu einer festen Institution entwickelt. In der Tat ist er oft weniger Berater der Regierung, die selten genau zuhört, sondern der sachbezogene Ratgeber für Akteure der Debatte in Politik und Wirtschaft. Man kann seine Ratschläge ausschlagen, überhören kann man sie nicht. Gerade in diesen Tagen, in denen in Bereichen der öffentlichen Dienstleistungen – zum Beispiel bei der Bundesbahn – exorbitante Lohnsteigerungen durchgesetzt werden, mit denen sogar bürgerliche Politiker der Schuldenbremse entfliehen wollen, und Regulierung populärer ist als die kreative Kraft des Marktes, wird der Sachverständigenrat gebraucht. Da die Autorität der Politik in beklagenswerter Weise minimiert ist, kommt es auf die Stimme der Experten an, auch um den Ernst der Lage zu vermitteln. Klare Worte sind gefragt!
Es mag sein, dass die zunehmende Detailverliebtheit der Gutachten am Ende nicht im Sinne Ludwig Erhards gewesen wäre. Ihm ging es ja vor allem darum, öffentlichkeitswirksam wirtschaftliche Zusammenhänge darzulegen und Konsequenzen wirtschaftspolitischer Entscheidungen aufzuzeigen. Trotzdem wäre Ludwig Erhard mit der Expertise zufrieden. Die Ludwig-Erhard-Stiftung ist sehr stolz, dass sowohl Prof. Dr. Lars P. Feld, der ehemalige Vorsitzende des SVR, als auch Prof. Dr. Veronika Grimm, aktuell Mitglied im SVR, heute zum Mitgliedskreis der Ludwig-Erhard-Stiftung gehören. Auch Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otmar Issing, heute Ehrenmitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung, war Mitglied des Sachverständigenrates.
*Hans Tietmeyer, Rede zu 40 Jahren Sachverständigenrat in „VIERZIG JAHRE SACHVERSTÄNDIGENRAT 1963 – 2003“, Dokumentation des Statistischen Bundesamtes, Oktober 2003
Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.
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