Liebe Leserinnen und Leser,

ich hoffe, dass Sie alle gesund und mit reichlich Zuversicht ausgestattet ins neue Jahr gekommen sind. Es wird ein Jahr mit vielen Ungewissheiten und großen Herausforderungen werden. Gleichwohl spricht vieles dafür, dass wir letztlich entweder an einer Rezession knapp vorbeikommen oder aber zumindest schnell wieder in eine Phase mit – wenn auch geringen –Wachstumsraten kommen werden. Das wäre ein wichtiger Beitrag zur wirtschaftlichen und damit auch zur gesellschaftlichen Stabilität.

Schon zu Beginn des Jahres ist zu erkennen, dass auch in der Wirtschaftspolitik sehr grundsätzliche Fragen auf der Tagesordnung stehen. Seit Ludwig Erhard im Jahr 1963 das Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (die sogenannten Wirtschaftsweisen) gegen heftigen Widerstand durch den Deutschen Bundestag gebracht hat, soll der Rat „untersuchen, wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum gewährleistet werden können“ (§2 Gesetz über die Bildung des Sachverständigenrates) – ein Kanon, den man als „Quadriga der wirtschaftspolitischen Ziele“ bezeichnen kann.

Jenseits der Zufriedenheit über eine weiter gute Beschäftigungslage und der aktuellen Bemühungen um Preisniveaustabilität kommt die allgemeine Frage der Leistungsfähigkeit einer marktwirtschaftlichen Ordnung und im Speziellen das Thema der Legitimität des Ziels „Wirtschaftswachstum“ erneut auf die Tagesordnung. Die erste Ausgabe des „Spiegel“ in diesem Jahr ziert das Porträt von Karl Marx, und die TAZ-Journalistin Ulrike Herrmann hat mit ihrem Buch „Das Ende des Kapitalismus“ die Sachbuch-Bestsellerlisten vor Weihachten gestürmt. Da lag eine Anleitung zur Wirtschaftsdiktatur nach dem Muster der britischen Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg unter den Weihnachtsbäumen mancher von Umwelt-, Ukraine- und Wirtschaftskrise gebeutelter Mitbürger. Es ist ein flott geschriebenes Buch mit nach meiner Auffassung falschen Annahmen und daher auch falschen Schlussfolgerungen. Aber wenn man die oft jungen fundamentalen Kritiker unserer Wirtschaftsordnung verstehen und ihnen entgegentreten will, ist die Lektüre hilfreich.

Das „Ende des Kapitalismus“ muss nach Ansicht der Autorin kommen, weil der Kapitalismus – Soziale Marktwirtschaft ist damit auch gemeint – ohne Wachstum nicht auskommt und es keine Option zur Erhaltung des Planeten bei weiterem Wachstum gibt. Das erfrischend klar postulierte Ziel ist die schnelle Rückkehr zum Bruttosozialprodukt von 1978, also zu nur noch 50 Prozent von der heutigen Wirtschaftsleistung. Da das freiwillig kaum denkbar ist, müssten die britischen Kriegsgesetze Winston Churchills kommen, die inklusive der Zuteilung von Essensmarken, der Rückkehr der Arbeitnehmer in die Landwirtschaft und des Verbotes von Flügen und Flughäfen das aktuelle Leben stoppen.

Frau Herrmann macht klar, dass wer die Welt so sieht, die Demokratie zur Disposition stellen muss, weil keine Demokratie so etwas beschließen wird. Zusätzlich formuliert sie eine sehr beschränkte deutsche Wohlstandssicht auf die Welt. Europas Wirtschaft wird aus Gründen der Sättigung und der Demographie ohnehin der am langsamsten wachsende Teil der Welt bleiben. Aber den Menschen in Afrika, Asien und Südamerika anzusinnen, ohne Wachstum, ohne Infrastruktur, ohne Bildung, ohne Gesundheitssystem und ohne menschenwürdige Arbeit durch das Jahrhundert zu gehen, ist schon ein starkes Stück! Mit Realität hat das nichts zu tun.

Nicht nur unrealistisch, sondern auch falsch ist die hinter diesen Ideen stehende ökonomische Analyse. Wachstum gibt es, weil frei entscheidende Menschen nach der Befriedigung ihrer Bedürfnisse streben – und nicht weil freie Wirtschaftsordnungen ohne Wachstum nicht leben könnten. Diese Behauptung ist wirklich nicht neu, Karl Marx ist ihr wichtigster Vertreter. Bis zu Wikipedia hat es seine These geschafft: „Außerdem macht die Entwicklung der kapitalistischen Produktion eine fortwährende Steigerung des in einem industriellen Unternehmen angelegten Kapitals zur Notwendigkeit …“. Der Schweizer Hans Christoph Binswanger hat diese These in seinem Buch „Wachstumsspirale“ weiter vertieft und wollte Mindestwachstumszahlen für die Existenzfähigkeit kapitalistischer Ordnungen definieren. Die ökonomische Debatte ist längst darüber hinweg, Marktwirtschaft lebt nicht nur von der Zinsfinanzierung, sondern auch von der Sparrate; und die Marktwirtschaft verträgt wirtschaftliche Verhältnisse ohne volkswirtschaftliches Wachstum sehr wohl – gleichwohl ist ein solcher Zustand für die angestrebte Schaffung von „Wohlstand für Alle“ im Sinne Ludwig Erhards nicht hilfreich.

Aber auch die zweite Annahme der Wachstumsgegner bleibt falsch: Die technologische Weiterentwicklung ist nicht der Fluch, sondern die Rettung einer noch einige Zeit wachsenden Weltbevölkerung. Es kann gut sein, dass die weltweit einzigartigen deutschen Versuche, eine Energie- und Technologiewende in unrealistisch kurzer Zeit erzwingen zu wollen, kurzfristig scheitern. Aber der langfristige Kurs zur rohstoffsparenden Kreislaufwirtschaft ist längst unumkehrbar, und das ist grundsätzlich auch richtig und sinnvoll. Ulrike Herrmann selbst beschreibt in ihrem Buch durchaus eindrucksvoll die Erfolge der modernen Wirtschaft bei der Bekämpfung von Hunger und Armut, bei dem Aufstieg der sich endlich entwickelnden Länder der ehemals Dritten Welt und bei der allgemein steigenden Lebenserwartung. Doch dann paart sich die Angst vor dem Neuen mit der Angst vor den großen Zielen. Da wird ganz offenbar die Freiheit unbedeutend gemacht gegenüber dem großen, anmaßenden Ziel der Weltenrettung.

Es ist wirklich hilfreich, dieses Buch gelesen zu haben. Es zeigt die Größe der Aufgabe, die vor uns und den kommenden Generationen liegt. Wer die Handschrift des menschverachtenden Moskauer Aggressors erkennt, sieht überall die Angst vor der Freiheit der Menschen. Wo Menschen frei sind, haben die Regeln der Kriegswirtschaft keinen Platz. Wer das anders sieht, soll es zur Abstimmung stellen. Mit dem Traum einer benevolenten Diktatur zur Rettung der Menschheit gewinnt man keine Mehrheiten.

Die Antwort der Sozialen Marktwirtschaft lautet: Vertrauen in die Zukunft, Vertrauen in die Vernunft und Kreativität der Menschen, Selbstbewusstsein aus dem Erreichten und Vertrauen in eine zur Solidarität fähige Gesellschaft. Auch in dieser Welt gibt es harte Entscheidungen. In meinem letzten Kommentar zum Jahresende 2022 sprach ich von Gewinnern und Verlierern. Das gilt für die Energiewende. Vielleicht gilt es auch dafür, dass wir den bisher eingeschlagenen, die Umwelt eher belastenden Sonderweg mit Blick auf die Nutzung der Kernenergie noch einmal für eine Übergangszeit überdenken müssen. Eines steht jedoch fest: Der Traum einer friedlichen Welt mit mehr als zehn Milliarden Menschen ohne ökologische Katastrophen braucht Wachstum. Die Menschen brauchen es, nicht das System! Deshalb wird sich der Kapitalismus mit der Marktwirtschaft als Motor immer wieder wandeln und anpassen, aber sein Ende ist nicht in Sicht.

Wir in der Ludwig-Erhard-Stiftung wollen – auch mit unserem neuen Ludwig-Erhard-Forum für Wirtschaft und Gesellschaft in Berlin – dazu beitragen, dass die hier beschriebene Debatte geführt wird. Es ist eine Zeit, in der der zivilisierte Konflikt nötig ist. Die Offenheit von Menschen wie Ulrike Herrmann ermöglicht diese Debatte. Es ist gut, dass sie ihre Sichtweise so offen darlegt. Aber was sie sagt, ist grundverkehrt. Darum wollen wir ringen, und wir haben gute Argumente. In diesem Jahr 2023 wird die Soziale Marktwirtschaft, die mit der Währungsreform und Ludwig Erhards Freigabe der Preise ihren Anfang nahm, 75 Jahre alt. Ein guter Zeitpunkt zu feiern und für die Idee zu streiten.

Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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