Der Titel von Sahra Wagenknechts neuem Buch „Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten. Reichtum ohne Gier“ verspricht, eine Alternative zum sogenannten Kapitalismus aufzuzeigen. Auf die Einlösung dieses Versprechens muss der Leser lange warten, und er bekommt nicht viel. Erst kurz vor Schluss des Buches finden sich circa 15 Seiten Text, auf denen eine alternative Wirtschaftsordnung knapp und vorwiegend negativ skizziert wird. Wir erfahren, wie es nicht sein soll.

Der Entwurf der Autorin weckt Erinnerungen an marktsozialistische Experimente wie den jugoslawischen Sozialismus, ferner an die Wirtschaftsordnung des Iran, seitdem er Islamische Republik ist, an die Venezuelas unter Chavez und die Wirtschaftsordnung der Tschechoslowakei von 1946–1948, als die Kommunisten den Ministerpräsidenten stellten, aber noch nicht die Alleinherrschaft innehatten. Über die oft trübseligen Erfahrungen mit derartigen Wirtschaftsordnungen verliert die Autorin kein Wort. Stattdessen durchstreift sie die Kontinente und die Epochen der Wirtschaftsgeschichte und reißt dabei eine Unzahl von Themen an. Ein Buchtitel, der dem eigentlichen Inhalt des Buches gerecht wird, könnte lauten: „Wirtschaftskritische Betrachtungen einer aufgewühlten Zeitgenossin. Mit einem kurzen Alternativentwurf“.

Übergroße Themenvielfalt

Mit der Themenvielfalt überfordert sich die Autorin erheblich; das könnte auch ein Genie nicht leisten. In den Teilbereichen, für die der Rezensent Kompetenz besitzt, sind ihm zahlreiche Irrtümer und Inkonsistenzen aufgefallen. So definiert Wagenknecht Gewinn (Kapitaleinkommen) in marxistischer Tradition als Resultat von Ausbeutung, Ausbeutung entweder einer Monopolstellung oder der Arbeitnehmer. Wenn keine Ausbeutung vorliegt, handelt es sich um Arbeitseinkommen oder um eine legitime Risikoprämie. Das wird ausführlich dargelegt. Daraus folgt, dass sich die Zahlen von Thomas Piketty (Le capital au XXIe siècle), auf die sich Wagenknecht beruft, gerade nicht dazu eignen, um die von ihr behauptete Explosion der Gewinne zu belegen, verwendet Piketty doch einen viel weiteren, nichtmarxistischen Begriff der Kapitaleinkommen. Eine wichtige Rolle für Pikettys Ergebnisse spielen beispielsweise Wertsteigerungen für Wohnimmobilien, wohingegen Wagenknecht diese zumindest für Eigenheime ausdrücklich aus dem Kapitalbegriff ausschließt (Seite 65). Wenn sich Frau Wagenknecht dennoch auf Pikettys Zahlen beruft und weder auf die Notwendigkeit hinweist, sie „marxistisch“ zu bereinigen noch einen Versuch dazu unternimmt, argumentiert sie inkonsistent.

Ein zweites Beispiel: Wenn Frau Wagenknecht behauptet (Seite 41), die englische Arbeiterschaft („das Lohnniveau“, schreibt sie) habe erst ab den 1880er Jahren von der Industrialisierung zu profitieren begonnen, so wussten dies schon Karl Marx und Friedrich Engels besser. Engels brachte dies 1858 zu Papier (Marx-Engels-Werke 29, Seite 358). Wenn Marx und Engels von Arbeiterklasse sprachen, meinten sie damit die Arbeiter der Industriebetriebe. Nur sie galten ihnen als revolutionäres Subjekt, und deswegen beunruhigte es Engels, dass die englische Industriearbeiterschaft „verbürgerlichte“. Auch dieser Unterschied fällt bei Wagenknecht unter den Tisch. Bei Weitem nicht alle englischen Arbeiter arbeiteten in der Industrie, und viele andere wie zum Beispiel die Maurer haben ihre Lage schon im frühen 19. Jahrhundert deutlich verbessern können. Kein Wunder: Es wurde viel mehr gebaut als zuvor.

Widersprüche und Paradoxien

Wenn Frau Wagenknecht gegen das Rechtsinstitut der Kapitalgesellschaft und der damit einhergehenden Haftungsbeschränkung für den Eigentümer protestiert (Seiten 254 ff.), stellt sie die Dinge so dar, als bekäme er diese Befreiung vom Risiko umsonst. So kann es sich nur verhalten, wenn er seine Gläubiger hinters Licht führt – das kann im Gefängnis enden und ist keineswegs risikolos – oder der Staat (faktisch) das Risiko übernimmt, wie es bei Großbanken leider der Fall ist. Wenn keine staatliche Ausfallbürgschaft vorliegt, muss der Eigentümer für die Haftungsbeschränkung sehr wohl bezahlen, und zwar entweder über höhere Fremdkapitalzinsen oder, indem er den Kredit gar nicht erst bekommt und folglich auf ein lukratives Projekt verzichten muss. Haftungsbeschränkung bedeutet ein erhöhtes Ausfallrisiko für die Fremdkapitalgeber, und dafür verlangen sie einen Ausgleich.

Erneut verwickelt sich Wagenknecht in einen Widerspruch, wenn sie an anderer Stelle beklagt, dass sich die Banken bei der Kreditvergabe an Privatunternehmen der Realwirtschaft so vorsichtig verhalten. Damit gesteht sie eigentlich zu, dass die Haftungsbeschränkung durchaus ihren Preis hat. Paradox ist auch, dass die „Gemeinwohlbanken“, die Wagenknecht schaffen will, bei der Kreditvergabe sehr viel lockerer agieren sollen, obwohl die wichtigsten Wirtschaftssubjekte, die die Wagenknecht`sche Modellwirtschaft bevölkern, das heißt ihre Öffentlichen und Gemeinwohlbetriebe, eigentlich überhaupt kein haftendes Eigenkapital mehr besitzen. Ebenso wie im jugoslawischen Sozialismus sollen sie als „eigentümerlos“ gelten, was in Jugoslawien bedeutet hat – und es wohl auch bei Wagenknecht bedeutet –, dass kein Unternehmensexterner auf ihre Mittel (ihr Vermögen?) zugreifen kann, auch nicht im Fall von Zahlungsunfähigkeit und Bankrott.

Die Wagenknecht`sche Forderung nach einer „Kapitalneutralisierung“ (Seiten 272 f.) bedeutet, wie sie explizit formuliert, dass „niemand das Unternehmen oder Teile von ihm … kaufen kann“ (Seite 275). Ebenso wie in Jugoslawien dürfte mithin auch die scheibchenweise Übernahme des Unternehmens im Wege einer Zwangsversteigerung ihres Anlagevermögens verboten sein. Wagenknecht sollte mal erläutern, wie sie sich einen Bankrott ihrer Öffentlichen und Gemeinwohlbetriebe vorstellt. So wie in der jugosozialistischen Konkurs- und Zwangsvollstreckungspraxis oder anders?

Vage Formulierungen

In Wagenknechts Marktsozialismus sind Privatunternehmen nicht verboten, aber sie unterliegen engen Restriktionen. Beispielsweise dürfen sie nur als Personengesellschaft ohne Haftungsbeschränkung betrieben werden, und beim Erbgang soll der Unternehmer vermutlich – Wagenknecht wird wieder einmal vage – durch eine konfiskatorische Erbschaftsbesteuerung (Seite 272 in Verbindung mit Seite 275, denn warum sonst sollte er sich auf dieses „Geschäft“ einlassen?) dazu angereizt werden, sein Unternehmen seinen Arbeitnehmern zur Selbstverwaltung zu übergeben. Aus Wagenknechts Forderung nach der Wiedereinführung „strikter Kapitalverkehrskontrollen“ (Seite 225), wie wir sie in Deutschland unter dem NS-Regime hatten, folgt unvermeidlich, dass die Außenhandelstätigkeit der Privatbetriebe staatlicher Kontrolle unterworfen werden muss, um einen verdeckten Kapitalverkehr etwa durch Überfakturierung verhindern zu können. Die jugoslawische Erfahrung hat übrigens gezeigt, dass Kapitalverkehrskontrollen und Reisefreiheit heutzutage kaum mehr miteinander vereinbar sind.

Außer den Öffentlichen und den Gemeinwohlunternehmen gibt es in Wagenknechts Welt noch Betriebe mit Arbeiterselbstverwaltung, wobei in den Arbeiterräten ab einer Betriebsgröße von mehr als 1.000 Beschäftigten auch Vertreter der öffentlichen Hand Sitz und Stimme haben müssen. Wächst der Betrieb noch weiter an, erhalten diese ein Vetorecht. So verhielt es sich faktisch auch in Jugoslawien, nur dass die Schwellenwerte dort niedriger lagen. Ebenso wie in Jugoslawien sollen diese Vertreter der öffentlichen Hand von der Kommune und nicht vom Zentralstaat benannt werden. Das dürfte zu den aus Jugoslawien bekannten Konflikten zwischen unterschiedlichen Kommunen führen: Wer darf entsenden? Ebenso wie in Jugoslawien soll der Staat die Gründung von Betrieben mit Arbeiterselbstverwaltung ermöglichen, indem er ihnen das benötigte Eigenkapital als verlorenen Zuschuss zuführt. Das Problem dabei: Dieses Geld möchte fast jeder erhalten. Wer wählt die Glücklichen aus, die es tatsächlich bekommen?

Bei den öffentlichen und Gemeinwohlunternehmen verrät uns Wagenknecht nichts darüber, wer die Befugnis zur Besetzung ihrer Leitungsorgane besitzen soll. Ihre schwärmerischen Ausführungen zum Thema „Kreditlenkung“ (Seiten 230 f. in Verbindung mit Seite 273) lassen vermuten, dass für derartige Positionen eigentlich nur Leute von überlegener Weitsicht und edler Gesinnung infrage kommen. Wer nimmt den Eignungstest vor? Wagenknechts Ausführungen, dass es „nicht willkürlich“ (Seite 281) zugeht, dass „die Gesellschaft die Hoheit … in ihre eigenen Hände nimmt“, dass „die Demokratie … entscheidet“ (beides Seite 230), sind nur Ausflüchte. Wie lautet die Postanschrift der Gesellschaft?

Entgrenzung der Staatsschuld

Diese Verrenkungen sind laut Wagenknecht nötig, um die Macht der Banken zu brechen. Die eigentliche Quelle dieser Macht sei ihre Fähigkeit, unbegrenzt elektronisches Geld zu schaffen. Nun handelt es sich bei diesem elektronischen Geld um nichts anderes als um das Buchgeld, das Banken auch schon im 19. Jahrhundert schaffen konnten – mit dem einzigen Unterschied, dass die Bücher nicht mehr auf Papier geschrieben, sondern elektronisch geführt werden. Entgegen Wagenknechts Behauptung hat die Elektronik die Geldschöpfungsfähigkeit der Banken nicht vermehrt. Papier ist geduldig und setzt seiner Beschriftung mit hohen Zahlen genauso wenig Widerstand entgegen wie eine Computertastatur.

Zweifelsohne muss die Buchgeldschöpfung der Banken und die dadurch bewirkte Geldmengenexpansion begrenzt werden. Diese Aufgabe ist schon lange der Zentralbank zugewachsen, und die Mittel, mit denen sie dies bewirken kann, sind wohlbekannt. Die Deutsche Bundesbank hat diese Aufgabe verantwortungsbewusst wahrgenommen, solange sie nicht durch das Eurosystem entmachtet wurde. Seit der Euro in der Krise ist, bemüht sich die Europäische Zentralbank mit eher geringem Erfolg, die Banken zur Erzeugung von Buchgeld zu bewegen. Wenn die Buchgeldschöpfung die eigentliche Quelle ihrer Macht ist, würde dies bedeuten, dass die Banken auf ihre Macht freiwillig verzichtet haben und das Problem derzeit nicht relevant ist. In Wahrheit liegt die eigentliche Quelle der Bankenmacht jedoch an ganz anderer Stelle. Es ist die Bettgenossenschaft von Banken und Politik. Die Banken finanzieren die Politik, und die Politik bürgt für die Banken. Die Wagenknecht`sche Bankenreform liefe darauf hinaus, diese Bettgenossenschaft zum Dauerkoitus zu verfestigen. Eines bekämen wir dann gewiss: die völlige Entgrenzung der Staatsschuld.

Univ.-Prof. Dr. Bruno Schönfelder ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine VWL an der Technischen Universität Bergakademie Freiberg.

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