Wo der Antikapitalismus blüht
Linke wie Rechte wollen den Systembruch. Die Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft halten dagegen.
Wolfgang Schäuble (CDU), war gebeten worden, über „Antikapitalismus in der deutschen Politik“ zu sprechen. Wer, wenn nicht der ehemalige Finanzminister, der bei seinem erstmaligen Einzug in den Bundestag 1972 noch Ludwig Erhard begegnete, könnte besser aus eigener Anschauung über den politischen Umgang mit dem Kapitalismus und seinen Gegenströmungen berichten? Doch Schäuble behagte das nicht. Mit dem Begriff „Antikapitalismus“ könne er „nicht viel anfangen“. Übermaß schade, egal aus welcher Richtung: „Übertreibungen des Kapitalismus sind genauso schlimm wie die Übertreibung staatlicher Regulierung.“ Regieren sei ein „Rendezvous mit der Realität“, fasste der Staatsmann Schäuble seine jahrzehntelangen Erfahrungen in den Regierungen von Helmut Kohl und Angela Merkel zusammen. „Die Grünen lernen das gerade unter furchtbaren Schmerzen“, fügte er hinzu.
Eingeladen hatte der Ökonom Stefan Kolev, Leiter des Ludwig-Erhard-Forums für Wirtschaft und Gesellschaft in Berlin. Vor einem Jahr war das Forum als Standbein der Ludwig-Erhard-Stiftung in Berlin und als Plattform „zivilisierter Provokation“ gegründet worden. Diese Woche fand die erste Konferenz „zur Aktualität der Ordnungsökonomik“ statt. Jede freiheitliche Ordnung brauche als Stabilitätsgrundlage Zugehörigkeit und Identität, mahnte der vormalige Bundestagspräsident Schäuble. „Sonst wird das Mehrheitsprinzip nicht akzeptiert.“ Auch Übertreibungen an den globalen Finanzmärkten könnten dem sozialen Zusammenhalt gefährlich werden. Wieso, so Schäuble sinngemäß, sollten normale Bürger die Gehälter akzeptieren, die in der Finanzwelt gezahlt werden? Erhard habe schon 1965 zum Maßhalten aufgerufen und damit viel Spott geerntet. Maß und Mitte – das sei das Erfolgsrezept der Sozialen Marktwirtschaft – übrigens ein „sinnloses Wort“, wie die SPD anfangs gemeint habe, merkte der CDU-Politiker in einem kleinen Seitenhieb auf die Sozialdemokraten an.
Für die FDP-Bundestagsabgeordnete Linda Teuteberg geht es indes nicht nur um Mäßigung, wie schon die Verknüpfung der Sozialen Marktwirtschaft mit dem sogenannten Wirtschaftswunder zeige. Den Begriff sieht Teuteberg allerdings kritisch: weil das Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg eben nicht wunderbaren Mächten zu verdanken gewesen sei, sondern auf den Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft beruhte. Sozial sei die Marktwirtschaft, weil sie eine gute Versorgung sicherstelle – im Gegensatz zur Planwirtschaft, die Teuteberg in der DDR als Kind erlebt hat. Eine wirkliche Debatte über die Dysfunktionalität der Planwirtschaft habe es jedoch nicht gegeben, bedauerte die FDP-Politikerin, die sich zugleich eine gründlichere Auseinandersetzung mit der Sozialen Marktwirtschaft wünschen würde: „Haben wir ein Problem mit Auswüchsen oder haben wir ein Problem mit Unterschieden an sich?“
Exakt die begriffliche Unbestimmtheit sei jedoch der Grund dafür, dass die Soziale Marktwirtschaft zur Versöhnungsformel werden konnte, legte der Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl dar. Sowohl Leistungsgerechtigkeit als auch Umverteilung ließen sich unter ihrem Schirm unterbringen. Den jahrhundertealten Antikapitalismus habe aber auch die Soziale Marktwirtschaft nicht stoppen können. Am rechten Rand sieht Ritschl vor allem jene auf dem Vormarsch, die Wirtschaft zum darwinistischen Kampf ums Dasein erklärten, in dem man sich vor Überfremdung schützen müsse.
Im linken Lager ist nach den Beobachtungen von Ralf Fücks die Klimakrise Haupttreiber der Kapitalismuskritik. „System Change, not Climate Change“, Systemwechsel anstelle von Klimawandel, laute der Slogan der Protestbewegung Fridays for Future, hebt der Gründer und geschäftsführende Gesellschafter des Thinktanks Zentrum Liberale Moderne in Berlin hervor. Obwohl die Thesen des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums längst widerlegt seien, habe „Degrowth“ das Potential für eine neue außerparlamentarische Opposition. Diese „Weltflucht“ verkenne jedoch die Realitäten globaler Entwicklung, kritisierte Fücks: „Wenn eines sicher ist, dann dass die Weltwirtschaft weiter wächst.“ Die Devise könne deswegen nicht Stilllegung der Wirtschaft lauten. Vielmehr müsse es vor allem mit Hilfe des Preismechanismus gelingen, die Innovationskraft des Kapitalismus in die Ökologie zu lenken.
Quelle: Gelinsky, Katja: Wo der Antikapitalismus blüht, in: F.A.Z., 9. September 2023; © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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