Im Jahr 2018 feiert die genossenschaftliche Welt den 200. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888). Raiffeisen war neben Hermann Schulze-Delitzsch einer der bedeutendsten Pioniere der modernen Genossenschaftsbewegung in Deutschland.

Raiffeisenbanken und ländliche Raiffeisengenossenschaften sind auch heute noch breiten Bevölkerungsschichten bekannt. In den mehr als 150 Jahren ihres Bestehens haben die Genossenschaften eine große wirtschaftliche Bedeutung erlangt, was sich in signifikanten Marktanteilen in den Sektoren Banken, Wohnungswirtschaft und Landwirtschaft widerspiegelt. Die Genossenschaftsbanken haben als einzige Bankengruppe die Finanzkrise der Jahre 2008/09 ohne jede Staatshilfe überstanden.

Grundsatz einer Genossenschaft ist dabei immer die wirtschaftliche Förderung der Mitglieder durch die Nutzung des gemeinsamen Geschäftsbetriebs (Förderauftrag). Genossenschaften sind somit Unternehmen, die ihren Mitgliedern gehören und die ihre Mitglieder als Kunden haben. Der Mitgliedernutzen als Kunde besteht beispielsweise in der Bereitstellung günstigerer Konditionen durch die Genossenschaft. Dies zeigt sich besonders an den Aufgaben der ersten Genossenschaften, die durch Raiffeisen und Schulze-Delitzsch ab etwa 1850 gegründet wurden: Gewährung günstiger Kredite an Landwirte und Gewerbetreibende, Beschaffung von Rohstoffen zu günstigen Preisen für Handwerker, oder die gemeinsame Organisation der Produktion oder des Absatzes der durch die Mitglieder hergestellten Güter. Diese Zielsetzung der Genossenschaften hat sich im Prinzip bis heute gehalten auch wenn einige Genossenschaften inzwischen zu beeindruckender Größe herangewachsen sind, wie beispielsweise die Steuerberatergenossenschaft DATEV eG in Nürnberg.

Ideen Raiffeisens als Vorläufer der Sozialen Marktwirtschaft?

Im Raiffeisenjubiläumsjahr 2018 ist die Motivation der genossenschaftlichen Gründerväter von besonderem Interesse. Während sich Schulze-Delitzsch als klassischer Liberaler versteht, der die Genossenschaft aus einer rein ökonomischen Perspektive betrachtet, steht Raiffeisen auf dem geistigen Fundament eines praktizierten Christentums und ist hinsichtlich seiner gesellschaftspolitischen Vorstellungen eher als vorindustriell-konservativ einzuordnen. Dementsprechend war für Schulze-Delitzsch der rein wirtschaftliche Förderauftrag entscheidend, während Raiffeisen seinen Genossenschaften auch andere Ziele zuwies, so beispielsweise die Förderung der Bildung, des sozialen Zusammenhalts und allgemein der Sittlichkeit.

Durch diese außerökonomischen, eher sozialen Zielsetzungen wurde verschiedentlich versucht, Raiffeisen in die Nähe eines „christlichen Sozialismus“ zu rücken. Entsprechend äußert sich bereits Helmut Faust, der Genossenschaftshistoriker. Er behauptet, Raiffeisen habe seine genossenschaftliche Bewegung als „christlichen Sozialismus“ schlechthin verstanden. Faust stellt Raiffeisen dabei in eine Reihe mit christlichen Sozialisten in England und auf dem europäischen Festland. Seine Begründung für diese These bleibt aber vage, denn er bringt lediglich Zitate von Raiffeisen, in denen es um „Besserung der sozialen und wirtschaftlichen Zustände“, um „Gottesliebe“ und „Christenpflicht“ geht. Inwieweit diese Begriffe mit Sozialismus zu tun haben, bleibt im Dunkeln. Ingrid Schmale und Johannes Blome-Drees haben diesen Ansatz kürzlich wieder aufgegriffen und nehmen eine Präzisierung vor (vgl. Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen 2018, Heft 2). Danach können die Ideen Raiffeisens als eine Art Vorläufer der Sozialen Marktwirtschaft betrachtet werden.

Diese wiederum ist ebenso wenig abschließend definiert wie der Begriff des Sozialismus oder des christlichen Sozialismus. Dennoch kann man eine begriffliche Klärung vornehmen und überprüfen, ob Raiffeisen ein christlicher Sozialist war oder ob zumindest dieser Konzeption offen gegenüberstand. Zunächst ist festzuhalten – dies ist in der Literatur einwandfrei belegbar –, dass Raiffeisen dem Kommunismus ablehnend gegenüberstand. Raiffeisen war definitiv ein Anhänger der alten feudal-agrarischen Ordnung. Insofern ist es fraglich, dass er dem Sozialismus offener gegenüberstand. Allerdings muss man hierzu Sozialismus genauer definieren. In der Sphäre der Ökonomen wird Sozialismus als Gemeineigentum an Produktionsmitteln verstanden, als Gegenpol zu einer kapitalistischen Ordnung mit Privateigentum an den Kapitalgütern. Legt man diese Definition zugrunde, könnte eine Verwandtschaft mit genossenschaftlichem Eigentum bestehen, denn dieses ist ebenfalls gemeinschaftliches Eigentum. In diesem Fall sind die Kapitalgüter einer Genossenschaft gemeinschaftliches Eigentum der Mitglieder.

Verbindung von Sozialismus und Christentum?

Allerdings ist genossenschaftliches Gemeineigentum kein sozialistisches Gemeineigentum, aus zwei Gründen: Erstens beschränkt es sich auf den Bereich des Unternehmens, während sich sozialistische Eigentumsverhältnisse immer auf die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel im gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang beziehen. Zweitens ist das bei Genossenschaften zentrale Kriterium das der Freiwilligkeit. Man kann in Genossenschaften jederzeit eintreten und auch wieder austreten. In einer sozialistischen Wirtschaftsordnung ist das nicht möglich. Bei genossenschaftlichem Eigentum an Produktionsmitteln handelt es sich eindeutig um eine privatkapitalistische Eigentumsform.

Man kann Sozialismus aber auch anders definieren, beispielsweise als „solidarisches Wirtschaften“, was auch immer das heißen mag. Oder auch als eine Wirtschaftsordnung, die das Wohl der Armen in den Vordergrund stellt. Solche eine Ordnung kann durchaus auch christlich motiviert sein. Historisch hat es eine Reihe mehr oder weniger bekannter Persönlichkeiten gegeben, denen die Verbindung aus Christentum und Sozialismus am Herzen lag. In der Tat lassen sich insbesondere im Alten Testament Belegstellen finden, die eine solche Verbindung zumindest plausibel erscheinen lassen. Dazu gehören beispielsweise die Frage des Zinsverbots oder der Vermögensumverteilung (Erlassjahr). Auch im Neuen Testament werden immer wieder Texte herangezogen, die einen Sozialismus in der oben definierten vagen Form rechtfertigen sollen. So beispielsweise das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Solidarität) oder die urchristliche Gütergemeinschaft zum Wohl der Armen.

Die Belegstellen im Neuen Testament sind aber bei näherer Analyse nicht geeignet, eine irgendwie sozialistisch geprägte Ordnung zu begründen. Vielmehr dokumentieren diese Texte die Bedeutung individueller freiwilliger Entscheidungen bei der Solidarität mit den Armen und belegen die Wichtigkeit gerade des Privateigentums an Produktionsmitteln. Demgegenüber wird man es kaum als Sozialismus bezeichnen können, wenn Konsumgüter aus freien Stücken an minder Bemittelte verteilt werden oder wenn die Urchristen in vielfältigen Formen gemeinschaftlich tätig wurden. Insgesamt lassen sich aus dem Neuen Testament nur dann Argumente für den Sozialismus ableiten, wenn man diesen so weit definiert, dass alles, was irgendwie mit Nächstenliebe und Solidarität zu tun hat darunter fällt. Das wäre allerdings eine Definition, gegen die sich Sozialisten im engeren Sinne wohl verwahren würden. Nur unter einen solch sehr weit gefassten Sozialismusbegriff könnte man Friedrich Wilhelm Raiffeisens Genossenschaftskonzept einordnen. Mit den Dingen, die beim „Bund der Religiösen Sozialistinnen und Sozialisten Deutschlands“ diskutiert werden, hat eine Raiffeisen-Genossenschaft aber nichts zu tun.

Ablehnung staatlicher Hilfe

Möglicherweise hat eine Raiffeisen-Genossenschaft aber etwas mit „Sozialer Marktwirtschaft“ zu tun. Das kommt darauf an, welchen Typus man im Blick hat. Einerseits könnte es Ludwig Erhards liberales Konzept sein. In diesem Fall ist eine Wirtschaftsordnung dann sozial, wenn sie durch entsprechende Institutionen klassische Sozialpolitik weitgehend überflüssig macht. Neben Erhard können hier auch die Namen Walter Eucken und Friedrich A. von Hayek angeführt werden. Oder aber man meint Soziale Marktwirtschaft im Sinne von Alfred Müller-Armack, nach der klassische Sozialpolitik einen größeren Stellenwert erhält. Schließlich könnte auch Soziale Marktwirtschaft im linken Sinne gemeint sein. Das wäre dann der Fall maximaler Sozialpolitik, sozusagen der Wohlfahrtsstaat in höchster Vollendung. Diese Variante hat Erhard vehement abgelehnt, mit Müller-Armack hat er zumindest gestritten.

Bleiben wir also bei der Erhard‘schen Variante. Raiffeisen und seine Genossenschaften passen sehr gut in diese Ordnung. Genossenschaften bei Raiffeisen beruhen auf den Prinzipien Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Man tut sich aus freien Stücken zusammen, um eine Notlage zu beseitigen. Man organisiert sich selbst und regelt den Geschäftsbetrieb ohne fremde Unterstützung. Man haftet vollumfänglich für das, was man tut, und ruft nicht nach Staatshilfe, wenn etwas misslingt. Genau diese Staatshilfe wird von Ludwig Erhard sehr kritisch gesehen und von Friedrich Wilhelm Raiffeisen vollkommen abgelehnt. Nach Raiffeisen hat der Einzelne zwar ein Recht auf Zuwendung durch den Nächsten. Es ist die christliche Pflicht, für den Nächsten einzustehen. Daraus folgt aber kein Recht auf Unterstützung durch den Staat. Staatshilfe würde nach Raiffeisen nur zu einer Anspruchshaltung führen und damit dem Kommunismus nicht etwa den Boden entziehen, sondern ihn sogar noch fördern. Raiffeisens christliches Weltbild führt somit zu denselben Schlussfolgerungen wie bei Schulze-Delitzsch, der Staatshilfe ebenfalls rundheraus abgelehnt hat.

Damit können wir festhalten, dass die Genossenschaftsvorstellungen von Raiffeisen in keiner Weise zu sozialistischen Gesellschaftsmodellen passen. Wohl aber passen sie zu Erhards Vorstellungen von einer Sozialen Marktwirtschaft.

Prof. Dr. Richard Reichel lehrt an der FOM Hochschule Essen und ist Geschäftsführer des Forschungsinstituts für Genossenschaftswesen an der Universität Erlangen-Nürnberg.

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